Nach U-Bahn-Tod der blinden Tochter: Eltern zeigen Stadtwerke an

München - Vier Monate ist es her, dass die blinde Alexandra Rietzler zwischen zwei U-Bahn-Waggons stürzte und dabei zu Tode kam. Zwar haben ihre Eltern Strafanzeige gestellt - wie die Sicherheitslücke geschlossen werden soll, ist jedoch weiter unklar.
Dieter Rietzler erinnert sich noch gut an jene Nacht auf den 11. Juni. Um zwei Uhr hatten ihn seine Eltern geweckt, um ihm mitzuteilen, dass die Polizei vor der Tür steht. Seine jüngere Schwester Alexandra, 28 Jahre alt, sei tot, sagten die Beamten. Ein Unfall im Münchner U-Bahnhof Silberhornstraße. Die Leiche der jungen Frau liege in der Rechtsmedizin. Mehr wussten auch die Polizisten nicht. Stattdessen hatten sie eine Telefonnummer. Dort sei Genaueres zu erfragen, erzählt Rietzler.
Seiner Schwester Alexandra war zum Verhängnis geworden, dass sie blind ist. Im Brutkasten waren die Sehnerven des Sechs-Monate-Frühchens beschädigt worden. In jener Juni-Nacht wollte die Sozialpädagogik-Studentin kurz vor 23 Uhr an der Silberhornstraße in die U 2 einsteigen. Doch statt eine offene Türe mit ihrem Blindenstock zu ertasten, muss Alexandra eine Kupplungslücke zwischen zwei U-Bahn-Waggons erspürt haben. Sie stürzte auf das Bahngleis. Als Alexandra wieder auf den Bahnsteig klettern wollte, fuhr die U-Bahn los. „Sie musste nicht leiden", sagt ihr Bruder Dieter. Zumindest berichtete das der Pathologe der Mutter, die Gewissheit haben wollte.
Nicht aus Rache, sondern um etwas zu verbessern, haben Alexandras Eltern Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung gestellt - gegen die Stadtwerke und ihr Tochterunternehmen, die Münchner Verkehrsgesellschaft MVG. „Alexandra war eine Kämpfernatur. Die hat sich immer durchboxen müssen", sagt Bruder Dieter (32), ein Landwirt aus dem Oberallgäu. Er ist sich sicher: „Wenn sie lebend aus diesem Loch herausgekommen wäre, hätte sie alles in Bewegung gesetzt, damit da was anders wird."
Viel anders geworden, wie Rietzler es nennt, ist aber noch nicht. Die Anzeige, geführt gegen unbekannt, liegt bei der Staatsanwaltschaft. Es sei nicht klar, ob ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werde, sagt Oberstaatsanwältin Barbara Stockinger. Man wolle erst ein Gutachten abwarten.
Auch bei den Sicherheitsvorkehrungen hat sich nicht viel getan. Nach dem Unfall habe man mit dem Blinden- und Sehbehindertenverband vereinbart, regelmäßig Trainings für Blinde anzubieten - vier Mal pro Jahr, heißt es bei der MVG. Unfälle wie der an der Silberhornstraße ließen sich vor allem dadurch vermeiden, „dass Blinde sich mit Hilfe ihres Taststocks vom Vorhandensein einer begehbaren Fläche wie des Wagenbodens überzeugen". Was wohl heißt: Alexandra hätte den Unfall vermeiden können, hätte sie aufgepasst und das Loch zwischen den Waggons ertastet.
Fakt ist, dass ein Unfall wie der an der Silberhornstraße mit einer U-Bahn neueren Modells nicht hätte geschehen können. Die modernen C-Züge haben keine Kupplungslücken mehr. Allerdings wird es noch 20 Jahre dauern, bis die alten A- und B- Züge ausgemustert sind.
Bis dahin müsste es also andere technische Lösungen geben. Doch auch dies sei nicht kurzfristig zu klären, heißt es bei der MVG. Derzeit werde bundesweit darüber diskutiert. Mit dem Ergebnis: „Bis jetzt gibt es keinerlei bahnzugelassene Anwendungen."
CSU-Stadtrat Georg Kronawitter sieht den Fall anders. Schon mehrfach hatte er gefordert, im Münchner Nahverkehr Bahnsteigtüren zu installieren, die nur dort öffnen, wo auch eine Zugtüre ist. Die MVG lehnte immer ab: nicht praktikabel, zu teuer, hieß es zur Begründung. Auch zusätzliches Bahnsteigpersonal sei nicht finanzierbar.
Dieter Rietzler will solche Argumente nicht hören. „Es muss doch irgendwie möglich sein, da was zu ändern", sagt Alexandras Bruder. Er weiß: Seine Schwester wird das nicht wieder lebendig machen. Aber er weiß auch, dass sie das Gleiche gemacht hätte, wäre sie heute noch am Leben.
Matthias Kristlbauer