Sicherheit am Bahnsteig: Geld oder Leben

München - Der 20-Jährige, der am frühen Samstagmorgen am Isartor von einer S-Bahn überrollt wurde, ringt weiter um sein Leben. Währenddessen flammt die Diskussion um eine Gleisüberwachung wieder auf. Als Totschlagargument dienen die horrenden Kosten.
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„Wieviele Fahrgäste müssen noch sterben, bevor die Verantwortlichen handeln?“ Andreas Nagel von der Aktion Münchner Fahrgäste fragte das Ende November, als der zweite Betrunkene innerhalb von acht Wochen von einer U-Bahn überrollt wurde und starb. Mindestens sieben solcher Fälle gab es heuer, fünf bei der U-Bahn und zwei bei der S-Bahn. Zwei Tote gibt es zu beklagen und zwei Schwerverletzte. „Es muss endlich etwas geschehen“, sagt Nagel und meint damit eine Überwachung des Gleisbetts.
Unterstützung erhält er im Stadtrat von Georg Kronawitter (CSU), der sagt: „Natürlich ist das nicht ganz günstig, aber das ist der Preis, den die Gesellschaft zu zahlen bereit sein muss. Es geht hier um Tote und Schwerverletzte.“ Die Technik, sagt wiederum Andreas Nagel, „ist heute so weit, vernünftige und finanzierbare Lösungen bereitzustellen“. In der Nürnberger U-Bahn werden 21 U-Bahnhöfe mit einem speziellen Radarsystem überwacht. Das kostete 330.000 Euro pro Bahnhof, sagt Sprecherin Elisabeth Seitzinger. Im Münchner Netz gibt es 96 U- und 148 S-Bahnhöfe.
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S- und U-Bahn in München sind sich einig: Sie wollen keine Gleisraumüberwachung. Unfälle mit Verletzten und Toten, so MVG-Sprecherin Bettina Hess, „machen auch uns natürlich betroffen. Gleichwohl darf nicht unerwähnt bleiben, dass es sich bei den Verunfallten in aller Regel um Betrunkene handelt.“ Und für die sei die U-Bahn nicht gefährlicher als der Straßenverkehr. Eine Nachrüstung der Münchner U-Bahnhöfe mit Überwachungstechnik, wie in Nürnberg, „würde einen dreistelligen Millionenbetrag kosten, für den nirgendwo ein Kostenträger erkennbar ist.“
Eine Gleisbettüberwachung sei „im Eisenbahnsystem nicht Stand der Technik“ und nicht vorgeschrieben, heißt es bei der Bahn. „Die Zahl der Fälle, bei denen ein solches System Schlimmeres verhindert hätte, ist gering“, sagt Gerd Neubeck, Sicherheitschef der Deutschen Bahn. Auch er weist auf die hohen Kosten hin und appelliert an die Eigenverantwortung der Fahrgäste. Zudem, so ergänzt ein Sprecher in München, habe die S-Bahn an den wichtigsten Bahnhöfen zur Hauptverkehrszeit Aufsichtspersonal, und an jedem Bahnsteig der Stammstrecke gebe es Notrufsäulen.
Machbar sei eine Gleisbettüberwachung durchaus, so ein Bahn-Sprecher. In Einzelfällen werde sie an abgelegenen Bahnübergängen eingesetzt.
Grundsätzlich gibt es vier technische Möglichkeiten, Menschen auf dem Gleis zu entdecken: Lichtschrankengitter wie an der S-Bahntür, Laser-Scanner, die das Gleisfeld abtasten, Radartechnik und intelligente Bildverarbeitung. Alle Systeme sind durch Videokameras ergänzt, damit die Leitstelle bei Alarm sofort sehen kann, was passiert ist.
Die PRO- und KONTRA-Argumentation lesen Sie am Dienstag im Münchner Merkur
Die Nürnberger U-Bahn hat sich für ein Radarsystem entschieden, das die Gleisoberfläche abtastet. Es erkennt Lebewesen dank ihres hohen Wassergehalts zuverlässig und stoppt sofort den nahenden Zug. Eine aufgewirbelte Zeitung verursacht hingegen keinen Alarm. Wenn der Zug eingefahren ist, erfassen separate Sensoren den Raum zwischen zwei Zugteilen – wichtig, wenn wie geschehen Blinde hier hineinstürzen, weil sie glaubten die Wagentür ertastet zu haben (siehe Grafik). Tauben, die in der Anfangszeit Fehlalarme auslösen, sind kein Problem mehr: Der Computer erkennt ihr Flugmuster und filtert sie aus. Etwa eine Auslösung täglich gebe es in Nürnberg, so Seitzinger – meist Personen, die ins Gleis klettern, weil ihnen etwas hinuntergefallen ist, oder Schüler, die das System mutwillig auslösen. Beides sei lebensgefährlich, betont Seitzinger. Und ein- bis zweimal im Jahr rettet das System ohne Zweifel Leben.
Eine Alternative bietet die Münchner Indanet AG an, die bereits Kameras in U-Bahn und Tram installiert. Ihr System analysiert die Videobilder vom Gleisbett in Echtzeit und erkennt Personen. Fällt ein Mensch hinein, schlägt es Alarm. „Die Technologie der Bildauswertung ist da“, sagt Manfred Schmidt von der Indanet AG. „Man muss nur anfangen, sie einzusetzen.“ Laut Schmidt wäre die Video-Lösung „deutlich günstiger“ als andere Verfahren.
Jeder Unfall sei „natürlich schrecklich“, sagt Alexander Reissl, der Fraktionschef der SPD im Rathaus. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, das Gleisbett elektronisch überwachen zu lassen, antwortet er mit einer Gegenfrage: „Ist es wirklich das, was wir wollen und brauchen? Das werden dann wieder die Fahrgäste bezahlen müssen.“ Die Argumentation Kronawitters, wonach es hier um Menschenleben gehe, hält er für „unzulässig“: „Ein Betrunkener kann dir genauso gut vors Auto fallen. Sollen wir also auch die 400 Kilometer Haupstraßen in München entsprechend sichern?“ Kurzum: Die SPD will kein Geld für ein Gleissicherungssystem ausgeben.
Auch die grüne OB-Kandidatin Sabine Nallinger kann sich „nicht vorstellen, alle U- und S-Bahnen nachzurüsten“. Die MVG könne das „sicherlich nicht aus dem laufenden Betrieb finanzieren. Die Frage ist, ob wir uns die Sicherheit leisten können oder wollen.“ Man dürfe zudem nicht vergessen, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist.
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Von Thierry Backes und Peter T. Schmidt