Dann können wir ja heimgehen und der Lufthansa sagen, sie solle selbst entscheiden
Auf dem Tonband ist zu hören, dass dem Lagezentrum mitgeteilt wurde, die Maschine sei „zurzeit außer Funkkontakt“. Merk hielt eine „Pflichtwidrigkeit“ für „ausgeschlossen“, musste sich jedoch schnell eines Besseren belehren lassen, als der Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber – auch er ist auf dem Tonband zu hören – mit der Nachricht aufwartete, die Hawker Siddeley befinde sich schon im jugoslawischen Luftraum. „Ha, das ist ja allerhand“, entfuhr es dem diensthabenden Beamten da am Telefon, und Schreiber ist mit dem Kommentar zu hören: „Also entgegen der häufig wiederholten Weisung.“
Wenig später äußerte sich auch Merk gegenüber dem Bundesverkehrsminister Lauritz Lauritzen (SPD), der mit Culmann in Zagreb sprechen konnte und von diesem die Aussage überlieferte, er habe sich bewusst über die Weisungen hinweggesetzt. Merk wörtlich: „Na, dann können wir ja heimgehen und der Lufthansa sagen, sie solle selbst entscheiden, was sie für gut hält.“
Das ist natürlich große Scheiße.
Aus Bonn meldete sich Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) mit der kritischen Frage: „Warum haben Sie denn nun die Leute rausgelassen?“ Der damalige Staatssekretär im bayerischen Innenministerium (und spätere Münchner OB), Erich Kiesl (CSU), bekannte: „Also uns ist das völlig unerklärlich.“ Genscher setzte nach: Es sei doch abgesprochen gewesen, dass das Kleinflugzeug den deutschen Luftraum nicht verlassen sollte. Kiesl daraufhin: „Die haben abgeschaltet und wollten keinen Kontakt mehr mit uns.“ Genscher reagierte verärgert: „Das ist natürlich, wenn ich mir eine private Bemerkung erlauben darf, große Scheiße.“ Kiesl pflichtete kleinlaut bei: „Wir haben unten gar keine Befugnisse mehr.“
Als die kleine Maschine gegen 17 Uhr in Zagreb landete, entglitt dem Lagezentrum in München die Situation vollends. Teilweise gelang es dem bayerischen Innenministerium nicht einmal, Funkkontakt mit dem jugoslawischen Flughafen herzustellen. Selbst die Presse habe bessere Kontakte nach Zagreb als die Regierung, schimpfte Merk.
Hilflos registrierte das Lagezentrum dann, dass die drei Olympia-Terroristen in Zagreb von Bord der Hawker gingen und sich der Boeing näherten – ohne dass die Geiseln in der „Kiel“ aber freigelassen worden wären. „Das Flugzeug steht. Die drei Männer kommen schnell auf das Flugzeug zu“, beobachtete der spanische Journalist Salvador Salazar Carrion von der Nachrichtenagentur Efe, der seine Erlebnisse später niederschrieb. Er war eine der 13 Geiseln und sah aus einem der Flugzeugfenster auf das Flugfeld. Zwei Personen „lassen die Leiter hinunter, damit die drei Palästinenser hochklettern können“. Schon waren sie an Bord, sie umarmten sich, klopften sich auf die Schulter. Auch die Passagiere wurden von den drei zugestiegenen Terroristen freudig begrüßt – Carrion: „wie bei einem Happy-End in einem Film“.
Im Lagezentrum erfuhr Merk dann, dass die Boeing aufgetankt und startklar sei. Wie heute bekannt ist, hatte der deutsche Generalkonsul Kurt Laqueur einen Tankschein unterschrieben. Auch darüber müssen die deutschen Krisenstäbe entsetzt gewesen sein – das Tonband dokumentiert das aber nicht.
Die Geiseln waren immer noch an Bord – jetzt aber mit den drei Terroristen von München. Eigentlich war das ein Fiasko. „Ich bin sehr unglücklich über diesen Ablauf“, sagt Merk an einer Stelle. Aber das sollte nicht unbedingt nach außen dringen. Genscher bat Merk darum um Zurückhaltung gegenüber der Presse, er solle nicht von „Eigenmächtigkeiten“ Culmanns sprechen. Gegen Ende der Tonbandaufzeichnung meldet sich Verkehrsminister Lauritzen und berichtet Kiesl, Culmann sei bedeutet worden, er solle wenigstens keine eigene Pressekonferenz abhalten – nicht, dass er sich noch „als großer Held aufspielt“, wie Kiesl sagte. All das sieht nicht nach einem planvollen, geheimen und von langer Hand eingefädelten Austausch aus.
Die Freilassung der Gefangenen hätte auch leicht in einer Katastrophe enden können – denn anders als geplant waren jetzt Geiseln und Entführer in der Hand der Palästinenser. Doch den Geiseln geschah nichts – und entgegen der Befürchtung von Merk („laufen wir Gefahr, dass die Appetit kriegen“) stellten die Entführer auch keine weiteren Forderungen. Gegen 19.25 Uhr – die Maschine war zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg von Zagreb nach Tripolis – bricht die Tonbandaufnahme ab.
Der Rest ist bekannt: Kurz nach 21 Uhr landete der Lufthansa-Jet „Kiel“ in Tripolis. Dort gingen die beiden Entführer mit den drei Olympia-Attentätern von Bord und ließen die Geiseln, darunter auch ein Deutscher, allein zurück. Der spanische Journalist lobte vor allem den Lufthansa-Kapitän der „Kiel“, Walter Claussen. „Er hat Nerven aus Stahl, ist sehr ruhig, er ist tatsächlich der Held des Ganzen. Dank seiner Ruhe haben wir das Ganze überlebt.“ Alle waren unverletzt. Militär, Zivilpolizei, Flughafen-Angestellte kamen jetzt in die Maschine. „Für uns gibt es Händeschütteln und ein Dankeschön“, berichtete der Journalist Carrion weiter. Er wunderte sich: „Danke – warum? Waren wir gute Geiseln?“
Die drei Olympia-Attentäter gaben in Tripolis noch eine Pressekonferenz, danach verlor sich ihre Spur. Lange Zeit nahm man an, der israelische Geheimdienst habe sie getötet. Doch zwei der drei Attentäter haben überlebt – sie ließen sich kürzlich (gegen Bezahlung) für eine ARD-Dokumentation interviewen. Reue zeigte keiner.
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