Kirchenaustritte: Zahl im Landkreis Miesbach fast verdoppelt - „So viele wie noch nie“

Die Kirchenaustrittszahlen haben sich 2022 im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt: 1776 Menschen traten allein im Landkreis Miesbach aus. Die Dekane suchen Lösungen.
Landkreis – Im gleichen Jahr, in dem die Erzdiözese München und Freising das Missbrauchsgutachten veröffentlicht hat, sind im Landkreis Miesbach rund 1800 Menschen aus den Kirchen ausgetreten. Die Zahl fasst alle Konfessionen zusammen – doch dürfte die Katholische Kirche am härtesten getroffen sein. Darauf weisen neben dem regional höheren Katholiken-Anteil auch die Zahlen aus dem Vorjahr hin, für das der Katholiken-Anteil – anders als für 2022 – bereits ermittelt wurde.
So waren 2021 die konfessionsübergreifenden Austritte mit 1065 nicht nur deutlich weniger als im Jahr darauf. Aufschlussreich ist auch: Laut Hendrik Steffens, Pressesprecher der Erzdiözese, sind damals 785 Menschen aus der Katholischen Kirche ausgetreten – ein Anteil von rund 74 Prozent des Gesamtwerts. Dem gegenüber standen laut Steffens 585 Taufen, vier Eintritte und elf Wiedereintritte. Der Realverlust lag demnach bei 185 Mitgliedern.
Austrittszahlen steigen stark
Ende des Jahres 2021 waren aber 50 021 Landkreisbürger weiter Mitglied der Katholischen Kirche. Bis zum Jahr 2022 dürfte diese noch nicht ermittelte Zahl aber deutlich geringer sein – die Austritte sind rapide gestiegen und haben sich teils sogar verdoppelt (siehe Grafik).

Katholisches Dekanat setzt auf Gemeinschaft
Dekan Michael Mannhardt, der die Pfarrverbände Hausham und Miesbach leitet, betont auf Nachfrage: „Wir begleiten auch viele Menschen, die nicht Mitglied in unserer Kirche sind.“ Ein großes Ziel sei es, für Menschen mit Sorgen und Nöten da zu sein. So habe der Pfarrverband Gottesdienste etwa für Eltern angeboten, die ein Kind verloren haben. „Damit erreichen wir Menschen in schwierigen Situationen.“
Um aber wirklich „alle abzuholen“ müssten Formate wie Gottesdienste entsprechende Elemente haben. „Wir schauen auch bei der Erstkommunion und bei Firmungen genau hin: Was brauchen die Menschen eigentlich?“
Um den Trend steigender Austritte umzukehren, brauche es aber ein Umdenken zunächst in den Köpfen, meint der Dekan. Gemeinschaft müsse für wichtig befunden werden und die religiöse Beheimatung in der Kirche stattfinden. Immerhin: „Es gab 2022 mehr Taufen als in den Vorjahren.“ Das hänge zwar mit Corona zusammen, sei aber ein positiver Trend.
In der Zukunft rechnet Mannhardt trotzdem mit einer Verkleinerung der Kirche – sorgt sich aber vor allem darum, wohin die Menschen gehen. „Das Vakuum muss irgendwie aufgefüllt werden“, sagt der Dekan. Kritisch sieht er deshalb den Zulauf zum Esoterikbereich.
Evangelisches Dekanat will sich positionieren
Doch nicht nur katholische Kirchenmitglieder treten aus. Irschenberg gehört zu den wenigen Gemeinden, die Austrittszahlen nach Konfessionen aufschlüsseln. Hier sind 2021 25 Katholiken und vier Protestanten ausgetreten. Im Jahr 2022 waren 13 der 41 Ausgetretenen evangelisch-lutherisch getauft.
Dass aufgrund von Skandalen in der katholischen Kirche auch Protestanten austreten, ist laut dem evangelischen Dekan Heinrich Soffel kein neues Phänomen. „Bei negativen Schlagzeilen differenzieren die Menschen oft nicht zwischen der katholischen und der evangelischen Kirche“, sagt er.
Es sei allerdings auch anders herum zu beobachten, dass bei einem Skandal in der evangelischen Kirche, Katholiken mit Austritten reagieren. Allerdings geht Soffel davon aus, dass viele Austritte mit der Inflation und den gestiegenen Energiekosten zu tun haben. „Ganz sicher spielt die finanzielle Not mit rein.“ Überdies bemerke er, dass viele ihre Kirchenzugehörigkeit nicht mehr über die Mitgliedschaft und die Kirchensteuer definieren. Auf dem Papier standen im Dekanat Bad Tölz-Wolfratshausen, das auch den Kreis Miesbach umfasst, rund 28 000 Mitglieder. Aber: „Bei uns sind viele Menschen aktiv und engagiert, die kein Kirchenmitglied sind.“
Überrascht ist Soffel von den hohen Austrittszahlen nicht. „Wir bekommen jeden Austritt gemeldet. Es hat sich über das Jahr hinweg angedeutet.“ Trotzdem: „Das tut schon sehr weh.“ Auch Soffel will Menschen deshalb stärker nach ihren Bedürfnissen fragen und näher an die Menschen kommen. „Wir sind überall in Diskussion.“ Selbstkritisch müsse er feststellen, dass sich die Kirche Fragen noch mehr stellen sollte, sagt der Dekan. Eine klare Position, etwa zu Themen wie Ökologie, sei aber ein Dilemma. „Die Meinungen sind bei unseren Mitgliedern divers.“
Standesämter spüren die Austritte im Alltag
Einhellig ist derweil der Eindruck der Standesämter. Dort vollziehen Mitglieder ihren Austritt, oft noch bevor die Kirche davon weiß. In Valley etwa wickelt Franz Huber, Geschäftsleiter des Rathauses, die Austritte formell ab. Er sagt: „Im ersten Quartal 2022 war’s ganz schlimm – aber es waren auch Evangelische darunter.“ Insgesamt sei ein „Dominoeffekt“ erkennbar; die Besucher würden in Schwüngen kommen.
Die meisten derer seien römisch-katholisch, ergänzt Christine Neundlinger. Die Standesbeamtin in Schliersee führt das auf die Prägung in ihrer Gemeinde zurück, sagt aber auch: „Früher waren es vielleicht 30 oder 40 Austritte im Jahr.“ Nun waren es 139. Der Trend zeichne sich schon seit Jahren ab. Aber, wie auch Bayrischzells Geschäftsleiter Josef Acher betont: „2022 waren es so viele wie noch nie.“ Er bearbeitete früher ein oder zwei Austritte pro Jahr. Zuletzt waren es 25. Die Gründe würden die meisten freimütig erzählen, „ob ich’s wissen will, oder nicht“, scherzt Acher. „Ich sag immer: Das musst Du dem Pfarrer erzählen.“ nap
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