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Sandra Wiedemann ließ ihr Kind abtreiben - aus Liebe

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In der 23. Woche der Schwangerschaft, dachte Sandra Wiedemann noch, dass mit ihrem Baby alles in Ordnung ist. © fkn

Schwabsoien - Stolz zeigt Sandra Wiedemann in der 23. Schwangerschaftswoche ihren Bauch: Damals war die Welt noch in Ordnung, dann folgte die wohl schwerste Entscheidung ihres Lebens.

Schon als 16-Jährige hat sich Sandra Wiedemann geschworen, nie ein Kind abzutreiben. Vor zwei Jahren hat die 36-Jährige ihren Schwur gebrochen: Weil das Baby in ihrem Bauch einen Chromosomenschaden hatte, entschloss sich die Schwabsoienerin zu einer Spätabtreibung in der 26. Schwangerschaftswoche. Sie spricht von „Sterbehilfe im Mutterleib“, wenn sie die Geschichte ihrer Tochter Angel Marie erzählt, die sie 680 Gramm schwer und 32 Zentimeter groß am 21. Dezember 2012 tot zur Welt brachte. Ihre Gefühle und Erfahrungen schildert sie in ihrem Buch und im Gespräch mit dieser Zeitung.

Fangen wir beim schmerzhaftesten aller Momente an. Am 21.12.2012, als sie ihre Tochter tot zur Welt gebracht haben. Sie hätten sich wie eine Kindsmörderin gefühlt, schildern sie in ihrem Buch. 

Immer wieder hab‘ ich gebetet, dass mir meine kleine Tochter verzeiht, dass ich sie habe umbringen lassen. Wahrscheinlich auch deshalb, weil Abtreibung für mich nie in Frage gekommen ist. Dachte ich. Bei Angel Marie sprechen wir aber von einem Kind, das aufgrund schlimmer Fehlbildungen nicht lebensfähig gewesen wäre. Dann musste ich abwägen - muss ich sie aus Liebe gehen lassen?

Die Diagnose war eindeutig. Trisomie 13. Eine Chromosomenveränderung, die Kinder zu 90 Prozent nicht überleben. Ihr Arzt hat von menschenunwürdigen Leiden gesprochen. Formt nicht das schon Ihre Entscheidung? 

Tage nach diesem Arztbesuch gab es diesen Moment, der wie eine Eingebung war. Ich kann das meinem Kind nicht antun. Wenn sie nicht schon vor oder bei der Geburt stirbt, wird sie es wenige Tage später tun. Entstellt, sie hatte keine Nase, einen inoperablen Herzfehler. Das Schlimmste war die gravierende Missbildung des Gehirnes. Sie wird leiden, dachte ich, das kann ich als Mutter nicht verantworten. Diese klare Sicht hatte ich aber nicht von Anfang an. Ich habe überlegt, ihr trotzdem eine Chance zu geben, obwohl die Ärzte abgeraten haben. Ich wollte die Hoffnung lange nicht aufgeben, schließlich war ich schon in der 26. Woche schwanger.

Warum kam die Diagnose so spät? 

Meine damalige Frauenärztin hat einige prägnante Dinge übersehen. Schon beim 3D-Ultraschall in der 20. Woche war der Kopf des Babys auffällig klein, irgendwie sonderbar. Bei unserem ersten Sohn, Niklas ist jetzt vier, war alles genau zu erkennen, ganz toll, und dieses Mal war’s schwammig. Das Gesicht haben wir gar nicht erkannt. Die Frauenärztin hat es als einen unglücklichen Moment bezeichnet, ich hatte damals schon ein komisches Gefühl.

Was haben Sie daraufhin unternommen? 

Die Ärztin mit meinen Bedenken konfrontiert. Sie aber hat mir versichert, das sei völlig im Rahmen. Ich war trotzdem beunruhigt, wollte mich aber zusammenreißen. Bei der nächsten Untersuchung vier Wochen später hat sich das von selbst erledigt. Meine Frauenärztin wirkte nervös, hat beim Ultraschall ständig gemessen und getippt. Sie kriegt keine Größenmessung hin, hat sie nur gesagt, dann musste ich in eine Fachklinik.

Es folgten die schlimmsten Tage Ihres Lebens, schreiben sie in Ihrem Buch. Es hätte sie beinahe kaputt gemacht, weil Sie sich und Ihrem Mann die Schuld an der schweren Behinderung ihrer Tochter gegeben haben. Warum? 

Man sucht nach Erklärungen. Hat die Farbe, die ich beim Streichen in den ersten Wochen eingeatmet habe, geschadet? Die Handystrahlung? Der 3D-Ultraschall? Die letzte Befürchtung haben viele Artikel im Internet bestätigt, das hat mich fertig gemacht. Ich bin nicht damit klargekommen, selbst Schuld zu sein. Das war das Schlimmste. Erst später hat sich herausgestellt, dass sich so ein Genfehler schon bei der Zeugung entwickelt. Das hat zwar mir die Last genommen, trotzdem hab’ ich mein Kind verloren.

Darunter leiden Sie auch heute noch. 

Natürlich. Angel Marie war meine absolute Wunschtochter. Monatelang war ich nicht sicher, ob ich jemals mit diesem Schicksalsschlag klarkommen werde, ich hab’ mich so leer gefühlt. Dann habe ich alles in meinem Buch niedergeschrieben. Für den Fall, dass ich meine Entscheidung irgendwann später anzweifle, damit ich nachlesen kann. Vor neun Monaten ist schließlich unser zweiter Sohn geboren, Jannis, er ist kerngesund. Die Schwangerschaft war natürlich nicht einfach.

Wegen neuer Ängste? 

Ich hätte mich beinahe verrückt gemacht. Hatte Angst, dass wieder alles schief geht. Trotzdem hab’ ich nie daran gezweifelt, es noch einmal zu versuchen. Mit so einer furchtbaren Erfahrung konnte ich das Thema Kinderkriegen auf keinen Fall abschließen, sonst wäre ich verrückt geworden. Vielleicht wollte mir das Schicksal mit Angel Marie etwas mitteilen. Was, weiß ich nicht, aber sie ist Teil der Familiengeschichte.

Schließlich wurde sie auch im Familiengrab beigesetzt. 

Sie ist und bleibt unsere Wunschtochter. In einem kleinen Sarg haben wir sie beerdigt. Sie war gerade einmal 32 Zentimeter groß, wog 680 Gramm. Nach der Totgeburt habe ich Sie im Arm gehalten, meine Tochter. Sie war so zerbrechlich, ihre Missbildungen hat man ihr angesehen. Erst dann war ich mir zum ersten Mal absolut sicher, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Als sie schon tot war.

Das Gespräch führte Franziska Bär.

Das Buch „Am Ende aller guten Hoffnung“ von Sandra Wiedemann ist im Internetbuchhandel erhältlich.

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