Verzweifelter Hilferuf: Große Krise beim BRK – „Schwerste Zeiten seit vielen Jahren“

Der Personalmangel im Rettungsdienst nötigt das BRK zu einem verzweifelten Hilferuf. Dahinter stecken Corona-Folgen, viele, teils unnötige Einsätze - und ein Strukturproblem.
Landkreis – Das Video dauert etwa sieben Minuten. Vier BRK-Vertreter stehen vor einem Rettungswagen und sprechen direkt in die Kamera. Rettungsdienst-Leiter Bernd Kuchler sagt, dass demnächst Einsatzfahrzeuge ausfallen werden. Es seien „die schwersten Zeiten seit vielen Jahren“. Seine Stellvertreterin Sophia Schremser sagt: „Die Urlaubszeit steht ins Haus. Stand jetzt wissen wir nicht, wie wir das schaffen sollen.“ Markus Möbius, stellvertretender Leiter Einsatzdienste, sagt, man kämpfe „jeden Tag damit, die Dienstpläne mit Leben zu füllen“. Und Jan Lang, Kreisgeschäftsführer beim Bayerischen Roten Kreuz, sagt: „Das ist der Krisenfall für den Rettungsdienst.“
Personalmangel beim BRK: Dramatische Situation seit Wochen
Das Video, das die Merkur-Redaktion zugespielt bekommen hat, war laut BRK-Sprecherin Karin Windorfer „nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“. Der Hilferuf richtet sich an potenzielle ehrenamtliche Helfer, die eine medizinische Ausbildung haben oder einfach nur einen Rettungswagen fahren können. Das Filmchen zeigt, wie dramatisch die Situation in diesen Wochen tatsächlich ist. Die offizielle Pressemitteilung mit dem Untertitel „Hohe Auslastung, hoher Krankenstand, Unterbesetzung“ klingt naturgemäß sachlicher. Aber auch ihr ist zu entnehmen, dass derzeit sechs Stellen (von 61,3) im Rettungsdienst unbesetzt sind. Und dass das BRK, auch wegen der Hitze, momentan viermal so viele Einsätze fahren muss wie im vergleichbaren Zeitraum der vergangenen Jahre.
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Ein fiktives, aber realistisches Szenario: Eine Frau bricht sich in Starnberg ein Bein. Der Starnberger Rettungswagen (wenn denn gerade einer frei ist) fährt sie zwei Stunden bis nach Bad Reichenhall ins Krankenhaus – da die Klinken ja auch personell am Anschlag sind. Das Starnberger Fahrzeug fehlt dann, weshalb eines aus Landsberg aushelfen muss. Dort springt dann eines aus Memmingen ein. Und so weiter. Alles dauert länger.
80 Prozent der Einsätze sind unnötig.
Rettungsdienst-Leiter Kuchler erzählt: „Wenn unsere Wagen nach München müssen, kommen sie oft nicht mehr zurück. Vor einigen Wochen stand ich nach einem München-Einsatz im Ebersberger Krankenhaus.“ Einfach weil Kuchlers Rettungswagen der nächste verfügbare war. Mittlerweile kann das BRK Starnberg nirgends mehr aushelfen, eher droht die Stilllegung von Fahrzeugen.
Die Notsituation trifft aber den Zweckverband für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung (ZRF) der Landkreise Starnberg, Dachau, Fürstenfeldbruck und Landsberg am Lech, sagt dessen Ärztlicher Leiter, Dr. Michael Daunderer. „Alle Hilfsorganisationen versuchen mit jeglichen Mitteln, die Schichten zu besetzen. Das gelingt oft erst in allerletzter Minute.“ Aber in Einzelfällen gelingt es derzeit eben nicht mehr – zumindest nicht so, wie es das Gesetz will.
Daunderer veranlasste nun, dass die Rettungsdienste „vorübergehend von den Fachkraftquoten abweichen“ dürfen. So berichtet es das BRK Starnberg in der Pressemittelung. Konkret heißt das: Erfahrene Rettungssanitäter ersetzen die fehlenden, höher qualifizierten Notfallsanitäter. Daunderer ist bewusst, dass diese Maßnahme rechtlich nicht vorgesehen ist – und dass er damit Probleme bekommen könnte.
„Als Arzt bin ich es gewöhnt, Risiken gegeneinander abzuwägen. Das Risiko, einen Rettungswagen mit zwei geringer qualifizierten Kräften einzusetzen, halte ich für geringer als das Risiko, dass ein regelkonform besetzter Wagen gar nicht fährt oder erheblich zu spät eintrifft“, sagt er. Rettungssanitäter haben eine 520-Stunden-Ausbildung und sind im Gegensatz zum Notfallsanitäter öfter auch nebenberuflich tätig.
Ärztlicher Leiter sieht „kein Licht am Ende des Tunnels“
Daunderer sieht momentan „kein Licht am Ende des Tunnels“, sondern ein strukturelles Problem. Die Arbeitsgemeinschaft der Sozialversicherungsträger, also vor allem Krankenkassen, finanziert die Rettungsdienste in Bayern. „Sie ermöglichen viel zu wenig Azubi-Stellen“, sagt Starnbergs Rettungsdienst-Leiter Kuchler. Und jede kostet den Kreisverband nach eigenen Angaben noch dazu 150 000 Euro. „Wir hatten heuer 85 Bewerber als Notfallsanitäter – aber nur sechs Ausbildungsplätze.“
Die traurige Wahrheit: Es gäbe genügend junge Menschen, die den Job machen würden. Und manche, die ihn eine Zeit lang machen, stellen fest, dass sie in der Klinik-Notaufnahme mehr Geld kriegen. „Die wandern dann ab“, sagt Kuchler. Geschäftsführer Lang will nun eine Taskforce zur Bewältigung der Personalnot einrichten und „massiv Geld in die Hand nehmen“.
Kuchler, der sich auch mehr Stellen für die technische Betriebsleitung wünscht, weist noch auf einen aus Rettersicht äußerst ärgerlichen Aspekt hin. „Wir haben im Rettungsverband gemeinsam festgestellt: 80 Prozent der Einsätze sind unnötig.“ Das BRK rücke immer mal wieder zu Menschen aus, die ihre seit ein Paar Wochen eitrigen Finger oder ein Rückenleiden behandelt haben wollen. „Oft sind wir der Hausarzt mit Blaulicht.
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