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Die Psychologin rät: „Lieber ein paar Augen zudrücken“

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Von: Kathrin Hauser

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Birgit Misgeldist Psychologin an der Psychosozialen Beratungsstelle der Diözese Augsburg und deren kommissarische Leiterin.

Für fast alle hat sich der Alltag in der Corona-Krise komplett verändert. Ein Gespräch mit der Psychologin  Birgit Misgeld, über Krisenzeiten und Bewältigungsstrategien:

Ob Eltern, die plötzlich zuhause arbeiten, ob Kinder und Jugendliche, die nicht mehr in die Schule gehen und mit Freunden spielen dürfen, ob Großeltern, die sich isolieren sollten, ob Singles oder Großfamilien – für fast alle hat sich der Alltag komplett verändert, seit die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gelten. Ein Gespräch mit der Psychologin und kommissarischen Leiterin der Beratungsstelle des Bistums Augsburg, Birgit Misgeld, über Krisenzeiten und Bewältigungsstrategien.

Familien, Alleinstehende, alte und junge Menschen befinden sich in einer Ausnahmesituation. Was ist derzeit Ihrer Ansicht nach wichtig?

Wir sollten versuchen, das Beste aus dieser Situation zu machen. Das bedeutet, mehr auf das zu schauen, was trotz aller Einschränkungen möglich ist, als sich darauf zu fokussieren, was jetzt nicht mehr geht. Ich kann weiter spazieren gehen, ich kann mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen, mit meinem Partner reden... – ich kann Sachen machen, sie sonst nicht gehen. Es passieren ja auch viele positive und kreative Dinge gerade. Die Leute haben tolle Ideen. So eine Krise mobilisiert auch immer Vieles an Positivem.

Was können Familien tun, um gut durch diese Zeit der immensen Mehrbelastung mit Homework, Homeschool und vielen Ängsten zu kommen?

Da, wo Menschen auf engem Raum zusammenleben, ist es hilfreich, wenn alle Beteiligten so viel Toleranz aufbringen wie es geht und Konflikte möglichst klein zu halten. Ich empfehle nicht, Dinge zu klären, die einen schon seit Jahren stören, sondern lieber ein paar Augen zuzudrücken. Die meisten Familien haben eh schon einiges zu schultern, wenn der Alltag normal läuft. Jetzt, wo der Druck noch größer ist, ist es wichtig, seine Ansprüche nicht zu hoch zu setzen. Wer jetzt den Anspruch hat, den Haushalt perfekt zu schmeißen, die Lehrer komplett zu ersetzen und im Beruf trotz Homework weiter volle Leistung zu bringen, der wird seinen Ansprüchen nicht genügen können.

Haben Sie konkrete Tipps, die den einzelnen Familienmitgliedern guttun?

Jetzt, wo die gewohnten Strukturen weggefallen sind, ist es wichtig, sich neue Strukturen zu schaffen. Zu schauen, dass es Lern- und Arbeitszeiten gibt, Pausen, einen Feierabend und Essenszeiten aufrecht zu erhalten. Auch wenn sich jetzt fast alles zuhause abspielt, ist es hilfreich, zu trennen zwischen Arbeits- und Freizeit. Sonst verschwimmt alles. Dennoch muss nicht alles so bleiben wie vorher. Die Strukturen können mehr nach den eigenen Bedürfnissen gestaltet werden. Und Rückzugsorte sind wichtig. Derzeit liegt in den Familien vielleicht die größte Schwierigkeit darin, dass alle so viel Zeit miteinander verbringen. Sofern das räumlich möglich ist, sollten Rückzugsmöglichkeiten geschaffen werden.

Was ist generell für die Psyche gut?

Ich rate, mit anderen in Kontakt zu bleiben – zum Beispiel über Videoanrufe, Internet, Telefon. Es gibt auch in dieser Situation Möglichkeiten, anderen nahe zu sein. Es ist wichtig, rauszugehen, sich zu bewegen und körperlich und seelisch für sich zu sorgen. Dinge zu tun, die einem guttun, dafür zu sorgen, dass die persönliche Selbstfürsorge nicht vernachlässigt wird. Weiter zu kochen, sich etwas Ordentliches anzuziehen. Ich rate auch immer, nicht ständig die Nachrichten anzuschauen. Sich ein bis zwei Mal bei seriösen Quellen zu informieren ist wichtig, aber das muss nicht rund um die Uhr sein.

Wie kann erreicht werden, dass Ängste nicht überhand nehmen?

Dass es im Moment viele Ängste und Sorgen gibt, ist nachvollziehbar. Aber Panik und Angst waren noch nie gute Ratgeber. Wenn Ängste zu groß werden, hilft es, sich darauf zu konzentrieren, was möglich ist und das dann auch zu machen. Hilfsangebote wahrzunehmen. Und auch hier ist es wie immer hilfreich, sich auf Lösungen zu fokussieren und nicht auf Probleme.

Wie gehen einsame und depressive Menschen am besten mit dieser Situation um?

Für Menschen, die alleine leben, ist diese Zeit besonders belastend, weil so viele Dinge wegfallen, die sonst ein wichtiger Ausgleich sind. Das trifft depressive Menschen auch. Klassische Dinge, die jemandem Halt geben, sind nicht mehr möglich. Hier ist es wichtig, Kontakt zu Ärzten und Therapeuten zu halten. und sich im Ernstfall an den Kriseninterventionsdienst zu wenden. Wir bieten auch weiter telefonische Beratung an, sind aber nicht Tag und Nacht erreichbar wie die Notfallseelsorge.

Gewöhnt sich der Mensch schnell an Ausnahmezustände und empfindet sie dann als normal?

Das lässt sich so pauschal nicht sagen, weil die Fähigkeiten der Einzelnen diesbezüglich sehr unterschiedlich sind. Manche tun sich leichter damit, sich an Ausnahmesituationen anzupassen und damit zurechtzukommen, andere schwerer. Es ist auch bei allen unterschiedlich, wie groß die Veränderung tatsächlich ist. Für eine Familie, bei der alle normalerweise den ganzen Tag außer Hauses sind, ist die Umstellung größer als für einen Rentner, der ohnehin die meiste Zeit in seiner Wohnung verbringt.

Wie wirkt sich dieser Ausnahmezustand Ihrer Meinung nach auf die Zukunft aus?

Das weiß keiner so genau. Ich hoffe, dass viele positive Dinge wie zum Beispiel die Hilfsbereitschaft, das Aufeinander-Achtgeben mit in die Nach-Corona-Zeit gerettet werden können. Anderen zu helfen, hilft immer auch der eigenen Psyche – nicht nur in Krisenzeiten.


Hilfe und Beratung

In akuten psychischen Ausnahmesituationen gibt unter anderem Hilfe beim „Krisendienst der Psychiatrie“ unter 0180/6553000, bei der „Telefonseelsorge“ unter Telefon 0800/1110111 oder 0800/1110222 (beides rund um die Uhr besetzt). Die „Psychosozioale Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen“ der Diözese Augsburg bietet derzeit auch telefonische Beratung an Termine unter 0881/901150911 (ist nicht rund um die Uhr besetzt). Kinder und Jugendliche können, wenn sie Probleme haben, die „Nummer gegen Kummer“ wählen, die von 14 bis 20 Uhr unter 116111 zu erreichen ist.

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