Politikwissenschaftler legt sich fest: So wahrscheinlich ist ein militärischer Sieg der Ukraine

Politikwissenschaftler Stephan Bierling analysierte beim Neujahrsempfang des Wirtschaftsforums Oberland in Wolfratshausen den Ukraine-Krieg. Und er wagte einige Prognosen.
Wolfratshausen – Fast eine Stunde geißelte der Politikwissenschafter Prof. Dr. Stephan Bierling das System Putin und dessen Angriff auf die Ukraine. Nach dem Vortrag des Oberammergauers beim Neujahrsempfang des Wirtschaftsforums Oberland im Krämmel-Forum war es Reinhold Krämmel, Aufsichtsratsvorsitzender des Wirtschaftsforums, ein Bedürfnis, das Wort zu ergreifen: „Ich stimme nicht in allen Punkten mit Ihnen überein.“ Die kategorische Forderung Bierlings, die Ukraine „mit fast allem zu unterstützen, was sie braucht“, greift nach Meinung des 73-jährigen zu kurz: „Mehr Waffen erhöhen nicht die Chance auf einen raschen Frieden.“ Krämmel plädierte dafür, „alle Gesprächskanäle offen zu halten“. Russland „vom eurasischen Kontinent auszulöschen“, sei keine Option. „Es ist und bleibt unser Nachbar“, so der Honorarkonsul von Kirgisistan.
Politikwissenschaftler legt sich fest: So wahrscheinlich ist ein militärischer Sieg der Ukraine
Bierling, Professor für Internationale Politik an der Uni Regensburg, machte kein Hehl aus der Tatsache, dass seine „gesamte Sympathie“ dem Angegriffenen gehöre. „Die Ukraine will selbstbestimmt leben“, Putin dagegen fürchte sich „vor dem Zerfall des russischen Imperiums“ und habe „aus Angst vor Machtverlust“ einen blutigen Vernichtungskrieg gestartet. Seine offiziellen Begründungen für den Angriff – die Entnazifizierung der Ukraine, die Bedrohung Russlands durch ein Atomwaffen-Programm der Nachbarn – seien Hirngespinste. Allein die „Schoßhündchen Putins“, AfD und Linke, würden den Lügenbaronen im Kreml Gehör schenken.
Weh tun Putin vor allem die Exportsanktionen.
Aber: „Der Krieg verläuft anders, als sich Putin das vorgestellt hat.“ Die Ukrainer würden ihr Heimatland verteidigen, „sie kämpfen nicht für eine abstrakte Idee“. Die Moral der Soldaten sei eine gänzlich andere als die auf Seiten des Aggressors. Zudem habe Putin nicht mit der Geschlossenheit des Westens gerechnet. Deren Reihen versuche der russische Präsident nun durch das „Gepluster“ mit Atomwaffen aufzuweichen. Bierling nimmt die martialische Drohung allerdings nicht ernst. „Er will uns nur Angst einjagen.“
Referent hält „politischer Klasse“ in Deutschland „Totalversagen“ vor
Der „politischen Klasse“ in Deutschland hält der 60-Jährige rückblickend „Totalversagen“ vor. Die Devise „Wandel durch Handel“ sei eine „Selbstillusion“ gewesen. Hart ins Gericht ging Bierling auch „mit einem berühmten Wolfratshauser“. Er zeigte ein Foto von Edmund Stoiber, der als amtierender bayerischer Ministerpräsident Wladimir Putin herzlich umarmte – „und zwar nach dessen Angriff auf die Krim“, empörte sich Bierling.
Dass sich Deutschland bei der Gasversorgung von einem „Schurkenstaat“ abhängig gemacht habe, ist für den Politikwissenschaftler ein unverzeihbarer Fehler. Dass man nie auf nur einen Anbieter angewiesen sein dürfe, „das lernen bei mir an der Uni die Erstsemester“.
Politikwissenschaftler ist sicher: „Russlands Wirtschaft wird zerstört“
Überrascht worden sei Putin nicht nur vom Widerstand der ukrainischen Truppen, sondern auch von den „massiven Wirtschaftssanktionen“ des Westens. „Weh tun ihm vor allem die Exportsanktionen.“ Schon jetzt gebe es in Russland keine Mikrochips mehr, Autos würden ohne Airbags produziert – und aus Kühlschränken würden Chips ausgebaut, um die Rüstungsbetriebe damit zu versorgen. Bierling ist sicher: „Russlands Wirtschaft wird zerstört.“ Seinen Zuhörern im Krämmel-Forum gab er mit auf dem Weg, dass sie „vielleicht in 150 Jahren“ wieder in Russland investieren könnten. „Wenn überhaupt.“
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Bierlings Prognosen mit Blick auf ein Ende des Krieges: „Null Prozent“ wahrscheinlich sei ein rascher Waffenstillstand, sehr unwahrscheinlich eine territoriale Ausweitung der Kämpfe. Die Chance, dass Russland siegt beziehungsweise die Ukraine kapituliert, liege bei 30 Prozent. Für etwas wahrscheinlicher hält es Bierling, dass Putin seine Truppen nach Hause befiehlt beziehungsweise die Ukraine den militärischen Sieg verbucht. Die für den Politikwissenschaftler mit 40 Prozent wahrscheinlichste Zukunftsprognose: „Es wird ein langer Abnutzungskrieg.“ Zu dessen möglichem Ausgang sagte der 60-Jährige nichts. (cce)
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