Biden hat eine Flüchtlingskrise ausgelöst - Nun muss er Europa mit den Kosten helfen

Der chaotische Rückzug der USA hat zur Flucht von tausenden Afghanen geführt. Bald könnten viele weitere Europa erreichen - Joe Biden muss helfen, meint Expertin Elisabeth Braw.
- Das Desaster in Afghanistan wird lange Zeit schwere Folgen haben - auch in Form von Fluchtbewegungen.
- Besonders stark zu spüren sein wird das in Europa. Obwohl die Entscheidung für den militärischen Abzug in den USA fiel.
- Die Krisen-Expertin und Kolumnistin Elisabeth Braw mahnt US-Präsident Joe Biden nun zu Unterstützung für seine europäischen Verbündeten.
- Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 19. August 2021 das Magazin „Foreign Policy“.
Washington, D.C. - Kanada hatte früh angekündigt, 20.000 Afghanen aufzunehmen, darunter weibliche Führungskräfte, Journalisten und LGBTQ-Personen. Die Vereinigten Staaten flogen afghanische Dolmetscher und andere Personen, die mit der US-Regierung zusammengearbeitet haben, aus dem Krisenland aus. Das war Teil eines Plans zur Evakuierung von 22.000 Afghanen, die an den internationalen Bemühungen um die Demokratisierung Afghanistans beteiligt waren. Das ist gut.
Doch wie die Welt am Flughafen von Kabul beobachten konnte, versuchen unzählige Afghanen ohne Nachweise das Land zu verlassen. Diejenigen, die nicht nach Nordamerika eingeladen werden, werden bald stattdessen versuchen, in europäische Länder zu gelangen, die Abschiebeflüge nach Afghanistan bereits früh ausgesetzt hatten. Während die USA ihre afghanischen Flüchtlinge also auswählen können, müssen ihre europäischen Verbündeten den Rest übernehmen. Wie die Europäer in diesem Jahr feststellten, führt der Weg in die EU möglicherweise über Belarus, das Tausenden von Irakern und anderen die Grenzübertritt nach Litauen ermöglicht hat.
Afghanistan: Bidens USA ziehen ab und lösen Flucht-Reaktion aus - Europa in Sorge
Jeder Mensch ist wertvoll, aber wenn es um Flüchtlinge aus Afghanistan* geht, haben die westlichen Länder für manche von ihnen mehr Mitgefühl als für andere. Es würde zum Beispiel wohl kaum jemand zustimmen, dass es die afghanischen Dolmetscher ihrer Truppen nicht verdienen, evakuiert zu werden – obwohl gesagt werden muss, dass die Evakuierung der Dolmetscher tragisch langsam verlief. Sowohl die US-Regierung als auch private Initiativen bemühen sich, diese Menschen in die Vereinigten Staaten zu bringen. Das Vereinigte Königreich wiederum plante die Auswahl von 20.000 afghanischen Flüchtlingen, die es zusammen mit 1600 Militärdolmetschern und anderen einheimischen Mitarbeitern, die derzeit bereits früher evakuiert wurden, in das Vereinigte Königreich bringen wollte.
Aber es gibt noch viele weitere Afghanen, die jetzt Schutz verdienen, und zwar fast ein ganzes Land voll. Kaum hatte die US-Regierung ihren Rückzug aus Afghanistan angekündigt, wurden für ihre Verbündeten die Folgen deutlich.
Unter Hinweis auf die zunehmende Instabilität in Afghanistan setzte die schwedische Regierung am 16. Juli die Abschiebung von rund 7000 Afghanen aus, deren Asylanträge abgelehnt worden waren. Dieser Schritt löste in anderen EU-Mitgliedstaaten Besorgnis aus, die erfolglose Asylbewerber weiterhin abschoben und der Meinung waren, dass die schwedische Kehrtwende die europäische Einheit untergraben würde. Die größte Sorge der Mitgliedstaaten dürfte die Frage gewesen sein, was ein Ende der Abschiebungen für die Strafjustiz bedeuten würde, da Asylbewerber, die wegen eines Gewaltverbrechens verurteilt werden, normalerweise fast sicher mit Abschiebung rechnen müssen.
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Doch im August mussten auch sie die Abschiebungen aussetzen. Am 11. August erklärten beispielsweise Deutschland und die Niederlande, dass sie keine Afghanen mehr abschieben würden. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Deutschland rund 30.000 Afghanen, die abgeschoben werden sollten, aber nun im Land bleiben dürfen. „Ein Rechtsstaat trägt auch Verantwortung dafür, dass Abschiebungen nicht zur Gefahr für die Beteiligten werden“, erklärte Innenminister Horst Seehofer in einer Stellungnahme. In der Vorwoche hatte die deutsche Regierung die Abschiebung von sechs Afghanen, die in Deutschland eine Haftstrafe verbüßen, abgesagt. Seehofer zeigt sich damit weicher als während der Flüchtlingskrise 2015/16, als er die harte Position des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban* zu unterstützen schien.
Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat somit unmittelbare und konkrete Folgen nicht nur für die Afghanen selbst, sondern auch für die europäischen Verbündeten Washingtons, die nun für die Unterbringung und Versorgung Tausender Menschen sorgen müssen, die sie eigentlich nach Afghanistan zurückfliegen wollten.
Darüber hinaus bedeutet die Aussetzung der Abschiebung nach Afghanistan, dass Afghanen, die es nach Europa schaffen, praktisch das Recht haben, dort zu bleiben, bis sich die Lage in Afghanistan bessert – was in zwei Jahren, in zehn Jahren oder nie der Fall sein könnte. Darauf wiesen Seehofer und seine Kollegen aus den Niederlanden, Österreich, Belgien, Dänemark und Griechenland in ihrem Brief an EU-Innenkommissarin Ylva Johansson am 5. August hin, bevor sie von den Ereignissen überrollt wurden. Während die Vereinigten Staaten und Kanada Afghanen für ein künftiges Leben in Nordamerika auswählen, haben Amerikas europäische Verbündete keine solche Möglichkeit, da die Afghanen selbst nach Europa kommen werden.
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In der gesamten EU nehmen die illegalen Grenzübertritte dramatisch zu. Ein kleiner Teil davon ist auf die belarussische Aktion in der „Grauzone“ gegen Litauen zurückzuführen, durch die bereits im Laufe des August mehr als 4000 Menschen nach Litauen eingereist waren. Die überwiegende Mehrheit der Migranten kommt jedoch über das Mittelmeer und die Länder des westlichen Balkans. Die Zahl von 82.000 Menschen, die Europa zwischen Januar und Juli dieses Jahres erreichten, ist zwar weit entfernt von den Zahlen während der Migrationskrise 2015, liegt aber 59 Prozent höher als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Auch wenn nach der Ankündigung von US-Präsident Joe Biden* am 8. Juli, den Abzug der USA zu beschleunigen, noch nicht gerade viele Tage in diese Statistiken eingingen, zeigten sie jedoch schon, dass im Juli 3600 Menschen über die Westbalkanroute eintrafen, die meisten von ihnen Syrer und Afghanen. Das sind 67 Prozent mehr als im Juli 2020. Man muss keine große Fantasie haben, um vorherzusehen, dass diese Zahl angesichts der Kontrolle der Taliban in Afghanistan weiter steigen wird.
Niemand würde einer Person, die vor den Taliban flieht, die Zuflucht verweigern. In Anbetracht der Methoden der Taliban steht die Welt möglicherweise vor einem Flüchtlingsexodus, der genauso groß oder größer sein wird als der, der durch den Islamischen Staat und den Krieg in Syrien verursacht wurde. Aber die unbequeme Realität, mit der die Biden-Regierung konfrontiert ist, ist Folgende: Die europäischen Länder – die engsten Verbündeten Amerikas – sehen sich mit einer Flüchtlingswelle konfrontiert, die nicht auf ihr eigenes Handeln zurückzuführen ist, sondern auf Maßnahmen der USA, die ohne Berücksichtigung europäischer Ansichten getroffen wurden.
Afghanistan: Deutschland und Italien halfen den USA - nun müssen sie die Lasten der Flucht tragen
Tatsächlich wollten Washingtons europäische Verbündete in der NATO die Afghanistan-Mission beibehalten – allerdings nur unter amerikanischer Führung. Nach Bidens Rückzugsankündigung warb Großbritannien bei anderen NATO-Mitgliedstaaten für eine mögliche Mission unter britischer Führung – ohne Erfolg. Die NATO-Verbündeten des Vereinigten Königreichs haben das Land offenbar nicht für stark genug gehalten, um eine Afghanistan-Mission zu führen.
Die europäischen Verbündeten, die an der Seite der Vereinigten Staaten gekämpft haben, werden die Folgen zu spüren bekommen, wenn Tausende von Flüchtlingen vor den Taliban fliehen und damit wiederum rechtsextremen Parteien Nahrung geben.
Einige europäische Länder erreichen mehr Asylbewerber als andere: Deutschland, Frankreich, Spanien, Griechenland, Italien, Belgien, Schweden und die Niederlande haben weitaus höhere Asylbewerberzahlen als andere EU-Mitgliedstaaten. Diese und viele andere Länder standen nach den Anschlägen vom 11. September entschlossen an der Seite der Vereinigten Staaten und schickten Truppen, als die Vereinigten Staaten beschlossen, in Afghanistan einzumarschieren. Mit Ausnahme Frankreichs haben praktisch all diese Länder ihren Kurs beibehalten. Deutschland und Italien haben sogar eine große Anzahl Soldaten dort behalten, hauptsächlich um Washington einen Gefallen zu tun.
Afghanistan: Appell an die USA
Diese Freunde der Vereinigten Staaten sehen sich nun als Ergebnis des Vorgehens der USA* in den Gemeinden ihrer Länder mit einer unmittelbaren Krise konfrontiert. „Es müssen mehr Länder innerhalb und außerhalb der EU Verantwortung übernehmen [und Afghanen aufnehmen]“, sagte mir Maria Malmer Stenergard, migrationspolitische Sprecherin der Moderaten, der größten schwedischen Oppositionspartei. „Es kann nicht sein, dass wieder einige wenige Länder wie Schweden einen unverhältnismäßig großen Teil der Verantwortung tragen.“ Ministerpräsident Stefan Löfven vertritt einen ähnlichen Standpunkt: „Wir werden niemals zu 2015 zurückkehren“, sagte er diese Woche in der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter.
Zwischen dem vierten Quartal 2014 und dem vierten Quartal 2015 – dem Beginn der Flüchtlingskrise – nahm Schweden 156.100 Asylsuchende auf, die drittgrößte Zahl nach Deutschland und Ungarn. Schweden hat eine Bevölkerung von etwas mehr als zehn Millionen – die Vereinigten Staaten hingegen sind ein Land mit über 330 Millionen Einwohnern. Das bedeutet, dass die USA mehr als fünf Millionen Menschen hätten aufnehmen müssten, um in diesem Zeitraum das Niveau Schwedens zu erreichen.
Afghanistan, die USA und die „Pottery Barn“-Regel: Bezahlen was man beschädigt
Die viel zitierte „Pottery Barn“-Regel, nach der man bezahlt, was man beschädigt, sollte eigentlich bedeuten, dass Washington nun Hunderttausenden von Afghanen erlauben sollte, in den Vereinigten Staaten Zuflucht zu finden. Leider ist dies unwahrscheinlich. Selbst unter der Obama-Regierung wurden im Haushaltsjahr 2016 nur 12.587 syrische Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten aufgenommen. Im selben Jahr nahm Deutschland 344.820 syrische Asylbewerber auf (und fast 300.000 aus anderen Ländern).
Eine realistischere Perspektive wäre es, wenn Washington genau den Verbündeten helfen würde, die ihnen nach dem 11. September zu Hilfe kamen und seitdem in Afghanistan an seiner Seite standen. Natürlich kann man mit Geld keine Integration kaufen, ebenso wenig wie Willen, wie US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in Bezug auf die afghanischen Truppen feststellte. Die europäischen Länder werden aber unzähligen Afghanen Zuflucht gewähren, bis die Lage in Afghanistan so sicher ist, dass sie zurückkehren können. Da erscheint es nur fair, dass die US-Regierung, die bei der Entstehung der derzeitigen humanitären Katastrophe ein Wörtchen mitzureden hatte, die europäischen Steuerzahler unterstützt, die darauf keinen Einfluss hatten.
Viele Menschen machten sich im August auf dem Weg, darunter 640 Afghanen, die in ein für etwa 100 Fallschirmjäger und ihre Ausrüstung ausgelegtes Transportflugzeug der US-Luftwaffe* gepfercht und von dessen Besatzung heldenhaft gerettet wurden. Die Vereinigten Staaten sind moralisch verpflichtet, diese Menschen und viele andere zu empfangen – aber sie werden nicht alle von ihnen aufnehmen. Es wäre das Mindeste, dass Biden den besten Freunden Amerikas dabei hilft, die Last zu tragen, die er ihnen aufgebürdet hat.
von Elisabeth Braw
Elisabeth Braw ist Kolumnistin bei Foreign Policy und Fellow am American Enterprise Institute, wo sie sich mit der Abwehr neuer Bedrohungen für die nationale Sicherheit, wie beispielsweise hybriden Bedrohungen und Bedrohungen in Grauzonenbereichen, beschäftigt. Sie ist außerdem Mitglied der britischen National Preparedness Commission. Twitter: @elisabethbraw
Dieser Artikel war zuerst am 19. August 2021 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.
