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Afghanistan-Debakel: Bundeswehr-Vertreter ist „wütend“ - Seehofer verteidigt Vorgehen trotz „Kehrseite“

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Von: Florian Naumann

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Armin Laschet (re.) und Horst Seehofer haben sich am Donnerstag zur Afghanistan-Krise geäußert.
Armin Laschet (re.) und Horst Seehofer haben sich am Donnerstag zur Afghanistan-Krise geäußert. © Political Moments/Imago

Die Kritik an der deutschen Afghanistan-Politik reißt nicht ab: Ein Bundeswehr-Vertreter zeigt sich entsetzt - Horst Seehofer und Armin Laschet melden sich zu Wort.

Berlin/Kabul - Auch einen Tag nach der Regierungserklärung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) reißt die Kritik an der deutschen Afghanistan-Politik nicht ab - im Gegenteil: Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, zeigte sich am Donnerstag „wütend“ und hielt der Bundesregierung schwere Versäumnisse vor. Die Grünen übten Kritik an möglicherweise unrealistischen Evakuierungshoffnungen des Kabinetts.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) verteidigte unterdessen den Umstand, dass nunmehr Ortskräfte und Evakuierungswillige ohne größere Prüfungen aus Kabul ausgeflogen werden - nicht, ohne auf eine „Kehrseite“ der Maßnahme zu verweisen. Auch Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet* (CDU) meldete sich zu Wort. Er mahnte, die Ereignisse dürften sich „nie wieder“ wiederholen. Laschet richtete auch eine Forderung an die radikalislamischen Taliban.

Angesichts von Warnungen vor Terroranschlägen und des Abzugs der US-Truppen bleiben der Bundeswehr nur noch wenige Stunden für ihre Evakuierungsflüge aus Kabul. Die für Rettungsaktionen in die afghanische Hauptstadt verlegten Bundeswehr-Hubschrauber wurden bereits in der vergangenen Nacht wieder zurück nach Taschkent geflogen, wie Generalinspekteur Eberhard Zorn am Donnerstag in Berlin sagte.

Afghanistan: Bundeswehrverbands-Chef erhebt Vorwürfe - Streitkräfte müssen „Fehler ausmerzen“

Wüstner kritisierte am Donnerstag im Sender Radioeins, am meisten machten „der Umgang mit den Ortskräften wütend und die Konzeptlosigkeit der Bundesregierung seit Ende April“. Die Grünen äußerten Zweifel an dem Vorhaben, nach Ende der Militärmission zivile Evakuierungsflüge aus Afghanistan* zu organisieren.

Es sei nicht überraschend gewesen, dass die radikalislamischen Taliban das „Machtvakuum“ in Afghanistan nach Abzug der internationalen Truppen im Mai genutzt hätten, sagte der Bundeswehrverbandschef. „Uns hat eher überrascht: die Überraschtheit der Politik.“ Viele Experten und auch die Streitkräfte hätten „in den letzten Monaten und Jahren auf diese Situation hingewiesen“.

Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, André Wüstner (Archivbild).
Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, André Wüstner (Archivbild). © Metodi Popow/Imago

Zu den ehemaligen Ortskräften der Bundeswehr* sagte Wüstner: „Seit vielen Tagen rufen bei uns Tag und Nacht Menschen an, nicht nur aus Afghanistan, auch afghanische Menschen, die jetzt in Deutschland seit mehreren Jahren leben, die natürlich um ihre Angehörigen bangen, und in einer gewissen Art und Weise ist man hilflos.“ Er sei sich sicher, „dass die Bundeswehr alles versucht, diese Menschen noch abzuholen und auch da noch den Fehler, der begangen wurde, der in diesem Chaos begangen werden kann, dass man den versucht auszumerzen“, sagte Wüstner.

Afghanistan-Evakuierungen: Seehofer verweist nun auf „Notsituation“

Seehofer verteidigte am Donnerstag das aktuelle Vorgehen in Kabul in anderer Hinsicht: Angesichts der aktuellen Notsituation könne eine Sicherheitsüberprüfung von Einzelnen erst in Deutschland stattfinden. „Und das hat auch die Kehrseite: Die Leute sind dann da.“ Auch wenn es sich bisher nur um eine niedrige Zahl von Fällen im einstelligen Bereich handele, „sie sind da und wir können sie jetzt nicht nach Afghanistan abschieben, also können wir sie nur überwachen.“ Dennoch sei es in einer Notsituation richtig, unbürokratisch zu handeln, um ehemalige Ortskräfte deutscher Institutionen und Menschen mit besonderem Schutzbedarf außer Landes zu bringen.

Dazu zählten beispielsweise afghanische Frauen, die sich besonders für Menschenrechte engagiert haben. Dies stehe nicht im Widerspruch zum generellen Ziel des Bundesinnenministeriums, die Migration nach Deutschland zu steuern und zu begrenzen. Unter anderem Seehofer war zuletzt vorgeworfen worden, eine Evakuierung der Ortskräfte hintangestellt zu haben, um eine Migrations-Debatte um Bundestagswahlkampf zu vermeiden. Der Bundeswehr-Hauptmann Marcus Grotian zeigte sich diese Woche jedenfalls entsetzt über das Vorgehen der Bundesregierung.

Seehofer zu Afghanistan: „Wer eine unbürokratische Lösung will, bekommt ein gewisses Risiko“

Mit Blick auf einzelne abgeschobene Straftäter, denen es gelungen war, über die Evakuierungsflüge nach Deutschland zu gelangen, sagte Seehofer, diese hätten ihre Unterlagen gefälscht. „Wenn man eine unbürokratische Lösung will, bekommt man auch ein gewisses Risiko, aber in einer Notsituation nehmen wir das Risiko in Kauf“, fügte er hinzu. Allerdings gab es zuletzt etwa auch Berichte über eine Ortskraft, die am Flughafen mitsamt ihrer Familie zurückgewiesen wurde - offenbar zu Unrecht.

Seehofer versicherte, die Bundesregierung wolle sich auch nach dem Ende der militärischen Evakuierung um die rasche Aufnahme von ehemaligen Ortskräften und anderen besonders schutzbedürftigen Menschen aus Afghanistan bemühen. „Das Wichtigste sind die Gespräche mit den Taliban, dass die Menschen sicher ausfliegen können“, sagte der CSU-Politiker am Donnerstag nach einer Sitzung des Innenausschusses des Bundestages in Berlin.

An dieser Option zweifeln die Grünen. Sicherheitspolitiker Tobias Lindner wies auf zwei Probleme hin: „Das eine ist, es gibt ja keinen zivilen Flughafen mehr in Kabul - der ist schwer demoliert“, sagte Lindner im Sender Inforadio. „Es müsste erst mal darum gehen, einen zivilen Flugbetrieb wieder aufzubauen.“

Afghanistan: Laschet zeigt sich tief enttäuscht von Bidens USA - und stellt Forderung an Taliban

Laschet geißelte das nahende Ende der Evakuierungsflüge aus Kabul als erneute „Niederlage des Westens“ gegenüber den militant-islamistischen Taliban in Afghanistan. Dass besonders die USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Deutschen einmal eine Luftbrücke nach Berlin erfunden hätten, sich nicht in der Lage sähen, länger als bis zum 31. August in Afghanistan zu bleiben, „ist eine bittere Enttäuschung“. Auch über den 31. August hinaus müsse das Ziel sein, Menschen auf zivilem Luftfahrtweg oder auf dem Landweg aus Afghanistan herauszubringen.

Für die die deutsche Außenpolitik bedeute das: „So etwas darf nie wieder passieren“, sagte der CDU-Politiker. Er wiederholte eine bereits bekannte Forderung: Nötig sei künftig ein Nationaler Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt. Der Evakuierungseinsatz der Bundeswehr soll wegen des bevorstehenden Abzugs der US-Streitkräfte vom Flughafen und der wachsenden Terrorgefahr vermutlich in Kürze enden.

Laschet sagte, besonders bedrohten und leicht identifizierbaren Frauen wie Bloggerinnen und Menschenrechtlerinnen müsse zuerst geholfen werden. „Wir erwarten von den Taliban, dass den Frauen freies Geleit gewährt wird.“ Es müsse aber auch mit den Taliban verhandelt werden. Eine andere Alternative gebe es nicht. Mit den Taliban könne es keine Kooperation geben, wenn fundamentale Rechte nicht gewahrt würden. (AFP/dpa/fn) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA

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