„Alles Analphabeten“: Deutscher rettet sich nur dank SPD-Parteibuch durch Taliban-Checkpoint

Unzählige Einzelschicksale stecken hinter der Kritik an Afghanistan-Evakuierungsplänen der Bundesregierung. Ein besonders spektakulärer Fall wirft ein neues Schlaglicht.
Berlin/Kabul - Das von vielen Seiten gerügte „Versagen“ der Bundesregierung bei der Rettung der Bundeswehr-Ortskräfte aus Afghanistan ist weiter politisches Großthema - doch natürlich stecken hinter der Misere unzählige dramatische Einzelschicksale.
Ein Schlaglicht sowohl auf die prekäre Situation in Kabul, als auch auf Versäumnisse der deutschen Politik wirft nun ein spektakulärer Einzelfall: Einem deutschen Staatsbürger und seiner afghanischen Verlobten ist nach eigenen Angaben nur dank eines SPD-Parteibuchs die Flucht durch die Checkpoints der Taliban geglückt.
Nötig wurde die riskante Aktion offenbar aber erst wegen vorausgegangener wochenlanger diplomatischer und bürokratischer Hindernisse. Kritik gibt es nun just an den Sozialdemokraten.
Afghanistan: 33-Jähriger und Verlobte können erst nach Bürokratie-Wirren ausreisen
Berichtet hat die Geschichte der 33-jährige Deutsch-Afghane Asib Malekzada der Bild. Er lebt nach eigenen Angaben seit seinem zehnten Lebensjahr in Deutschland, wo er sich auch ehrenamtlich bei der SPD engagiert - und war Anfang August nach Afghanistan gereist, um seine Verlobte zum bereits genehmigten und angesetzten Hochzeitstermin nach Kassel zu holen. Das eigentlich als Formsache zu betrachtende Einreisevisum für Malekzadas künftige Ehefrau ließ sich anscheinend aufgrund grotesk anmutender Regelungen zunächst nicht beschaffen.
Zwischenzeitlich hatte es offenbar gar geheißen, nur „unmittelbare Angehörige“ dürften mit Deutschen ausreisen. Später erhielt das Paar dem Bericht zufolge die Auskunft, in Kabul könne das Visum nicht ausgestellt werden - seit 2017 sei das in Afghanistan nicht mehr möglich. Verwiesen wurde auf die deutschen Botschaften in Neu-Delhi und Islamabad. Dorthin sei aber eine Reise aufgrund der Corona-Krise nicht möglich gewesen. Erst dieser Tage und infolge von Medienberichten sei doch noch eine Einreiseerlaubnis erteilt worden.
Kabul im Taliban-Chaos: SPD-Parteibuch rettete Pärchen womöglich das Leben
Der späte Aufbruch nach Einmarsch der Taliban in Kabul geriet dann - wie für viele Ortskräfte der Bundeswehr in Afghanistan - zur lebensgefährlichen Aktion, wie es weiter heißt. Drei Checkpoints der Islamisten seien zu durchqueren gewesen, berichtete Malekzada dem Blatt. Am dritten habe es kritische Nachfragen gegeben. Er habe daraufhin behauptet, deutscher Diplomat zu sein.
„Das sind alles Analphabeten. Dafür sind sie weltbekannt“, erzählte er der Bild mit Blick auf die Kontrolleure der Taliban. „Ich habe das SPD-Parteibuch hochgehalten und das haben sie für etwas Offizielles gehalten offenbar. Wir durften durch.“ Das Parteibuch habe ihm letztlich das Leben gerettet.
Afghanistan: SPD-Staatssekretär teilt Ausreise-Geschichte - und bekommt Kritik zu hören
Die Berichte machten auch bis zur SPD in Deutschland die Runde. Unter anderem Wolfgang Schmidt, SPD-Staatssekretär im Finanzministerium von Kanzlerkandidat Olaf Scholz, teilte auf Twitter kommentarlos einen Artikel - und sorgte damit für Empörung. „Die Verantwortung trägt die Bundesregierung. Und der Staatssekretär von Olaf Scholz twittert so“, beklagte sich die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, in dem Kurznachrichtendienst.
Parteifreund Omid Nouripour - der schon zuvor im Interview mit Merkur.de Vorwürfe gegen die Regierung von Kanzlerin Angela Merkel erhoben hatte - verwies darauf, dass andere afghanische Helfer aus dem Umfeld der Sozialdemokraten weiter in Lebensgefahr sein könnten. Eine „jahrelange Tätigkeit für die Friedrich-Ebert-Stiftung“ etwa hätte nach Angaben von Außenminister Heiko Maas (SPD) nicht zur Ausreise gereicht, rügte er. „Kein Visa, kein Zugang zum Flughafen mehr. Ich bete, dass diese auch mit Tricks durchkommen.“
Kabul/Afghanistan: Schüsse am Flughafen, Bundeswehr-General berichtet von „verzweifelten Augen“
Die Zustände am Flughafen von Kabul sind unterdessen nach Angaben des Augenzeugen Malekzada weiter verheerend. „Wir mussten über tote Menschen laufen, Kinder lagen am Boden, teilweise kollabiert, vielleicht auch schon tot. Niemand kümmerte sich um sie, tausende Menschen drängelten sich nach vorne“, erzählte er.
Der Bundeswehrgeneral Jens Arlt, der den deutschen Evakuierungseinsatz vor Ort führt, sprach am Donnerstag von einer „angespannten“ Lage. Es spielten sich „dramatische Szenen ab“, schilderte er in einer Online-Pressekonferenz die Situation am Flughafen. „Es ist sehr, sehr turbulent alles“, sagte Arlt. „Sie werden vielleicht den einen oder anderen Schuss im Hintergrund hören. Sie sehen die verzweifelten Augen der Afghanen und auch der Staatsbürger unterschiedlicher Nationen, die einfach versuchen, in den inneren Bereich des Kabul International Airports zu gelangen, das ist schon dramatisch, was wir sehen.“
Der General berichtete von äußeren Kontrollringen der Taliban rund um den Flughafen und Zugängen, die von den USA und andere Nationen besetzt seien. Die Menschen müssten zunächst den Außenbereich erreichen. Es gebe Ausgangssperren in der Stadt, Straßen seien zudem verstopft. Er sprach von Hitze und Staub. Menschen, die in Innenbereich des Flughafens wollten, hätten das Gefühl, dass ihnen die Zeit davonlaufe. (fn mit Material von dpa)