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„Hochmut und Arroganz“ des Westens: Experte erklärt das Afghanistan-Scheitern

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Von: Helen Krueger-Janson

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Wer trägt die Schuld an der Katastrophe in Afghanistan? Und wer hat die Verantwortung für den schnellen Machtgewinn der Taliban? Nahostexperte Marcel Pott beantwortet diese Fragen im Interview mit Merkur.de.

München - „Schon der Versuch der USA, im Jahr 2003 im Irak ein liberales Gesellschaftssystem zu errichten, hat nicht funktioniert und ist in einem Desaster geendet“, sagt Marcel Pott. Der Nahostexperte ist gelernter Jurist und war später als Journalist zehn Jahre lang für das ARD-Hörfunkstudio Nahost in der libanesischen Hauptstadt Beirut und der jordanischen Hauptstadt Amman tätig.

Afghanistan: Fehlender Zusammenhalt in den Völkergruppen

In Afghanistan* sei dieser Versuch jetzt ebenfalls gescheitert - weil es den ausländischen Truppen nicht gelungen sei, „ein Land, das vormodern strukturiert ist und nie eine Nation war, sondern vielmehr eine Stammesansammlung“, zu einen, sagt Pott. Der Experte spricht damit die verschiedenen Völkergruppen an, die in Afghanistan leben: Mit rund 40 Prozent sind die Paschtunen die größte ethnische Gruppe im Land, gefolgt von den Tadschiken, die rund 25 Prozent ausmachen. Das letzte Drittel ergibt sich dann aus acht Prozent Hazara, sechs Prozent Usbeken und weiteren Ethnien. Diese verschiedenen Gruppen „haben nicht unbedingt an einem Strang gezogen, sondern standen in starker Rivalität“, so Pott.

Dieser fehlende Zusammenhalt hat sich auch in der fehlenden Kampfbereitschaft der afghanischen Soldaten gezeigt. Um Kabul einzunehmen, mussten die Anhänger der terroristischen Taliban nicht einmal zu den Waffen greifen. Viele Soldaten waren bereits über die Landesgrenzen geflohen, selbst der afghanische Präsident Aschraf Ghani hatte sich in den Vereinigten Arabischen Emiraten in Sicherheit gebracht.

„Die Korruption in Afghanistan ist sondergleichen“

„Viele Soldaten waren demotiviert, weil sie nicht richtig bezahlt wurden und das Gefühl hatten, von der Regierung im Stich gelassen worden zu sein“, erklärt der Experte. Dann das eigene „Blut zu vergießen, um eine Regierung zu unterstützen, die der Vetternwirtschaft verfallen war und nicht in der Lage war, für das Volk einzutreten“ war für die einheimischen Soldaten und Polizeikräfte kein Anreiz, sich den anrückenden Taliban entgegenzustellen.

Die Fehler der USA - Trump war naiv und Biden ungeduldig

Dass die Taliban jetzt nicht nur die afghanische Hauptstadt Kabul, sondern fast das gesamte Land unter ihre Kontrolle gebracht haben, ist Pott zufolge neben US-Präsident Joe Biden* auch Donald Trump anzulasten - selbst, wenn der zuletzt die Schuld seinem Nachfolger zuschob*. Trump habe mit den Taliban den bedingungslosen Rückzug der amerikanischen Truppen ausgehandelt, ohne eine Gegenleistung der Taliban zu verlangen. Dafür gab es einen festgelegten Termin, den die Taliban nur haben abwarten müssen.

„Es ist natürlich besonders bitter, dass Präsident Trump ein solches Papier von seinem Außenminister hat unterschreiben lassen“, sagt Pott, „das zeugt von außenpolitischer Naivität und Ignoranz.“ Zudem habe diese Abmachung in Abwesenheit der afghanischen Regierung stattgefunden, was ihre strukturelle Position vor Ort ebenfalls geschwächt hat. Und es sei nicht das erste Mal gewesen, dass Trump auf dem internationalen Parkett seine politische Unerfahrenheit offengelegt habe. „Das war ein großer, politischer Fehler“, erklärt Pott.

Joe Biden, Präsident der USA, spricht im Ostzimmer des Weißen Hauses über die Situation in Afghanistan. Biden hat den Taliban für den Fall eines Angriffs auf US-Kräfte mit «einer raschen und starken» militärischen Reaktion gedroht.
US-Präsident Biden spricht über die Situation in Afghanistan © dpa/AP | Evan Vucci

Dass Biden aber „das Zeitfenster so klein gehalten hat, darin liegt glaube ich der Fehler des amtierenden Präsidenten“, vermutet Pott. Innenpolitisch sei die Kriegsbereitschaft der US-Amerikaner auf unter 30 Prozent gesunken, genau wie die Bereitschaft, „ausländische Abenteuer mitzutragen“, erklärt er. Daher habe es der amtierende Präsident mit dem Abzug der Truppen so eilig gehabt.

„Die Kritik hat ja nicht auf sich warten lassen“, sagt Pott. So ist Biden nicht nur von der Opposition heftig für den abrupten Abzug der US-Truppen kritisiert worden, sondern auch von Mitgliedern seiner eigenen Partei. „Es ist beschämend und eine Blamage“, verurteilt Pott, „und das nicht nur für die Amerikaner, sondern auch für Großbritannien und auch für Deutschland.“

Afghanistan: Welche Lehren der Westen ziehen kann

Welche Lehren kann der Westen jetzt aus dieser geopolitischen Situation ziehen? „Nirgendwo in der Welt funktioniert es, von außen auf diese Gesellschaften kulturell und soziokulturell so einzuwirken, dass sie etwas aufbauen, was gar nicht in ihrer natürlichen Entwicklung der letzten Jahrhunderte gelegen hat“, erklärt Pott. „Es ist völlig undenkbar, dass man mit Erfolg eine fremde Kultur dadurch implantiert, dass man eine Armee aufbaut, die nur auf dem Papier stark ist und als Grundlage für ein neues Gesellschaftsmodell dienen soll“, sagt er. Das sei jetzt in Afghanistan und zuvor bereits im Irak und in Vietnam gescheitert.

Experte urteilt hart über Afghanistan-Kurs: „Hochmut und Ignoranz“

Die westlichen Nationen seien in Afghanistan mit einer Verbindung aus Hochmut und Ignoranz unterwegs gewesen, sagt Pott. Man dürfe bei einer Besetzung dieser Größenordnung nicht die kulturellen Werte und auch den Einfluss einer sehr unterschiedlichen Weltreligion ignorieren, sondern müsse das in die Aufbauhilfen integrieren. Etwa 20 Prozent der Afghanen seien es seiner Meinung nach, die fortschrittsorientiert und liberal denken und leben wollen. „Aber 80 Prozent stehen dem gegenüber, die nach herkömmlichen Wertesystemen agieren und diese auch nicht aufgeben wollen“, so Pott. (hkj) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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