Professor Dr. Klaus Stöhr: Im Winter erreichen Pandemien naturgemäß ihren Höhepunkt. Deshalb ist es fundamental richtig, dass man jetzt auch mit angepassten Schutzmaßnahmen vorangehen muss. Allerdings wird es mit der gegenwärtigen Strategie nach dem Motto „vor dem Lockdown ist nach dem Lockdown“ schwer, über diese kritische Zeit zu kommen, ohne die Unterstützung der Menschen zu verlieren. Vor diesem Hintergrund ist Schließung von Kindergärten und Grundschulen noch kritischer zu bewerten als Ausgangssperren. Sie wären das letzte Mittel in absoluten Krisensituationen – und diese Krisensituation sehe ich derzeit nicht.
Wo liegen die Schwachstellen der Lockdown-Strategie?
Stöhr: Der Ansatz der aktuellen Strategie ist ja, eine Inzidenz* von 50 anzustreben, damit die Gesundheitsämter die Kontakte wieder weitestgehend nachverfolgen können. Im Winter ist dieser Zielwert illusorisch, reines Wunschdenken.
Wieso sollte sich dieses von der Kanzlerin gebetsmühlenartig erklärte Ziel nicht erreichen lassen?
Stöhr: Das Virus ist flächendeckend verbreitet, wir haben eine drei- bis fünffache Dunkelziffer bei den Infektionszahlen. Es wird noch ein paar Wochen lang kalt sein, wodurch sich das Virus leichter ausbreiten kann als im Sommer. Die Maßnahmen werden zwar Wirkung zeigen, aber die Inzidenz niemals auf Dauer unter 50 zu halten sein. Deutlicher sind die Erfahrungen in unseren Nachbarländern. Hier liegen die Inzidenzen nach mehreren Lockdowns alle weit über 100. Tragisch war die Erfahrung aus Irland: Nach einer national Kraftanstrengung war im Dezember die 50er-Marke erreicht. Nach dem Lockern dann aber auf Rekordwerte über 900 geschnellt.
Welchen Grenzwert halten Sie für sinnvoll?
Stöhr: In den letzten Wochen hat man gesehen, dass wir in Deutschland mit einer Inzidenz von 130, 160, vielleicht 180 gut umgehen können. Die Krankenhäuser sind belastet, aber nicht überlastet. Wir sehen ja sogar eine Abnahme der Inzidenz. Gleichzeitig gibt es aber noch immer viele Todesfälle, vor allem in den Altenheimen. Der richtige Schluss daraus ist: Mit einem Gießkannenprinzip die gesamte Bevölkerung gleich zu behandeln, wird nicht funktionieren. Für Kinder und Bewohner der Altenheime die gleiche Inzidenz-Grenze anzusetzen, halte ich einfach für nicht differenziert genug. So eine Seuche betrifft Risikogruppen, im Falle von Covid-19 vor allem alte Menschen. Wie man mit einer Schließung von Kindergarten- und Schulschließungen das Infektionsgeschehen in Altenheimen eindämmen kann, verstehe ich gar nicht.
In Merkels Beraterstab fordert beispielsweise Ihre Kollegin Melanie Brinkmann sogar eine Zero-Covid-Strategie – also Inzidenz null. Realistisch?
Stöhr: Zero Covid ist zero realistisch. Dieses Ziel zu erreichen und dann langfristig in der Mitte von Europa im Winter zu halten, ist so weit weg von der Realität. Ich wundere mich, dass man sich ernsthaft damit befasst.
Warum?
Weil es eine rein mathematische Herangehensweise an die Bekämpfung der Pandemie ist. Bei einem solchem Naturereignis muss man aber die Realität sehen: Aus den Erfahrungen mit anderen ansteckenden Atemwegserkrankungen haben wir gelernt, dass die Inzidenz im Winter zehn bis 15 Mal höher ist als im Sommer. Wir sehen auch an den schlimmen Erfahrungen in unseren Nachbarländern, dass ein harter Lockdown die Inzidenz auf Dauer nicht unter 100 drücken kann.
Was muss gehen, damit wir Corona besser in den Griff bekommen?
Sinnvoll wäre, wenn fachübergreifend breiter beraten würde. In solche Gremien gehören neben Virologen und Epidemiologen beispielsweise auch Sozialwissenschaftler, Gesundheitsökonomen und Marketing- und Kommunikationsexperten. Wir wollen ja eine Einstellungsänderung in der Bevölkerung erreichen – und die wird mit Druck allein nicht gelingen. Die Menschen erwarten eine positive Agenda, ein Ziel, auf das wir gemeinsam hinarbeiten können. Dann werden sie auch Verständnis dafür aufbringen, falls die Maßnahmen noch mal etwas verschärft werden müssten.
Angela Merkel will diese Kritik offenbar nicht hören. Warum sind Sie in Deutschlands wichtigstem Krisenstab nicht vertreten?
Stöhr: Da müssen Sie andere fragen. Ich habe schon viele Regierungen beraten. Die meisten haben versucht, einen repräsentativen Kreis an Experten unterschiedlicher Fachrichtungen einzuladen. Sie haben verschiedene Ansätze zur Bekämpfung der Pandemie erarbeitet, alle Vor- und Nachteile dargestellt. Darüber wurde dann ergebnisoffen diskutiert. Aus der Summe der Alternativen lässt sich dann der bestmögliche Kompromiss finden. So habe ich das Krisenmanagement bei Ausbrüchen jedenfalls bisher erlebt.
Was genau müssen Kanzlerin und Ministerpräsidenten anders machen?
Stöhr: Zusätzlich zu den verordneten Maßnahmen brauchen wir Leute, die es schaffen, die Köpfe der Menschen zu erreichen. Wenn man nicht von Anfang an die optimale Kommunikationsstrategie durchdenkt, dann verliert man die Menschen auf dem langen Weg durch eine Pandemie.
Ist das nicht die Aufgabe der Politiker?
Natürlich. Aber ohne langfristiges, erreichbares Ziel, eine Positivagenda und die vage Hoffnung, dass es nach dem Lockdown alles anders wird, wirkt ihre tägliche Argumentation in vielen Fällen leider nicht.
Haben Sie ein konkretes Beispiel parat?
Im November hieß es: „Wir machen jetzt bis Weihnachten Lockdown – und danach wird alles gut.“ Es war schon damals klar, dass das Virus und der Winter vier Wochen später immer noch da sein werden und mehr als 90 Prozent der Bevölkerung empfänglich sind. So zu argumentieren, ist einfach zu kurz gesprungen. Eine Pandemie ist ein langfristiges Ereignis.
Die jüngste Lockdown-Begründung liefern neue Virusvarianten, vor allem aus England. Ist die Angst vor B117 und anderen Mutationen gerechtfertigt?
Eine Pandemie ist ohne Überraschung nicht vorstellbar. Es gibt ja schon viele tausend solcher Varianten. Man muss sie natürlich alle genau beobachten, und die englische Variante B117 scheint augenscheinlich infektiöser zu sein als das ursprüngliche Sars-CoV2-Virus. Aus der Sicht eines Seuchenbekämpfers glaube ich aber schon, dass wir mit solchen Varianten umgehen können. Sie sind kein Grund zur Panik.
Aber Merkel warnt doch davor, dass Varianten wie B117 die Infektionszahlen in kurzer Zeit vervielfachen könnten. Sehen Sie diese Gefahr nicht?
Wenn man beispielsweise die Infektionszahlen in Irland genauer analysiert, verliert die Variante ihren Schrecken. Dort gab es zwar einen steilen Anstieg der Infektionszahlen, er stand aber laut irischen Gesundheitsbehörden nicht im Zusammenhang mit B117. In Irland steigt nun momentan der prozentuale Anteil der Variante an den Infektionen immer weiter. Aber unterm Strich haben sich die Neuansteckungen in den letzten zehn Tagen halbiert. Das spricht eher dafür, dass diese Variante auch beherrschbar ist.
Interview: Andreas Beez