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Die Angst vor einem neuen Nordirland-Konflikt - Harter Brexit bedroht labilen Frieden

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Von: Marcus Mäckler

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Irland-Nordirland-Grenze
Keine harte Grenze: Das fordern viele Bewohner der Grenzregion von Irland und Nordirland. Sie sehen den labilen Frieden in Gefahr. © dpa / Mariusz Smiejek

London pokert – und Irland schaut ängstlich auf das, was droht. Käme es zu einem harten Brexit, würde das die irische Insel nicht nur wirtschaftlich schwer treffen, auch der Frieden zwischen Nord und Süd wäre in Gefahr. Ein Besuch bei Menschen, die mit dem Schlimmsten rechnen.

Dublin/Belfast – Die Grenze, das sind zwei Sorten Asphalt. Im Süden ist er etwas heller als im Norden und dort, wo beide Seiten aufeinanderstoßen, läuft ein kleiner, unscheinbarer Riss quer über die Straße. Man geht darüber hinweg, als wäre nichts dabei, von Nord nach Süd, von Süd nach Nord, einfach so.

Lange war das völlig undenkbar. In den 70er-Jahren standen hier, mitten auf der Landstraße im Grenzörtchen Killeen, Betonpoller. An denen kontrollierten schwer bewaffnete britische Soldaten die Autos, die von der katholischen Republik Irland ins protestantische Nordirland wollten. Irgendwann fingen die Bewohner von Killeen an, die Poller wegzureißen, und als die Soldaten sie erneuert hatten, rissen die Leute sie wieder ab. „Es war ein Spiel“, sagt Peadar Carpenter und zeigt auf die Stelle, wo die Poller standen. Ein Spiel im Krieg.

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Ex-Diplomat Peadar Carpenter befürchtet die Rückkehr von Gewalt. © Mäckler

Carpenter, ein Ex-Diplomat von britischer Höflichkeit, wuchs hier in der Grenzregion auf und hat ihre blutige Geschichte miterlebt. Die Terrororganisation IRA schlug hier im Nordirland-Konflikt viele Male zu. Am Hafen von Warrenpoint sprengte sie vor 40 Jahren 18 britische Soldaten in die Luft. Drei Jahre zuvor erschossen ihre Truppen weiter nördlich zehn protestantische Arbeiter. Das Kingsmill-Massaker war eine Racheaktion für den Tod zweier Katholiken. Jeder hier kennt die Geschichten. Carpenter sagt: „Bis heute tragen die Familien in der Region schmerzhafte Erinnerungen in sich.“

Viele Familien tragen schmerzhafte Erinnerungen in sich

3400 Menschen starben im Nordirland-Konflikt, mehr als 40 000 wurden verletzt. Die „Troubles“ endeten erst 1998 mit dem Karfreitagsabkommen, das bis heute als Musterbeispiel von Konfliktlösung gilt. Doch der Frieden ist bedroht – durch den Brexit, den der britische Premier Boris Johnson notfalls ohne Abkommen durchziehen will. Mit einem No-Deal käme die Grenze zwischen dem Norden und dem Süden Irlands wieder – und mit der Grenze wohl auch die Gewalt.

Es ist traurige Ironie, dass die irische Insel unter dem Austritts-Poker in London besonders stark leiden könnte. Theresa May, sagen sie hier, habe die schwierige Situation noch verstanden, ihr Nachfolger Johnson schere sich nicht darum. Offen sprechen es nur wenige aus, niemand will die Gefahr beschwören. Aber Irlands Regierung ist tief besorgt. „Der Brexit erschüttert die Fundamente des Karfreitagsabkommens“, sagt ein Regierungsbeamter. Das Fundament des Friedens.

Das Problem, um das alles kreist, lässt sich auf ein Wort bringen: Backstop. So heißt das Sicherheitsnetz, das eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern soll. Dafür müsste London aber in einer Zollunion mit der EU bleiben und könnte keine Handelsabkommen mit Staaten wie den USA abschließen. Die Brexiteers um Johnson lehnen das ab. Ihr einziger Gegenvorschlag, die Kontrollen ein Stück vor der Grenze durchzuführen, hat aber einen Haken: Es bleibt bei Kontrollen.

Irland müsste sofort Grenzkontrollen einrichten

„Das ist nichts anderes als eine Grenze vor der Grenze“, sagt Irlands Außenminister Simon Coveney. Er sitzt in einem Konferenzsaal seines Ministeriums im Zentrum Dublins. In dem Gebäude war früher mal eine Universität untergebracht, jetzt laufen hier die Vorbereitungen Irlands auf den Brexit. Coveney ist der zuständige Minister. „Die Iren“, sagt er, „haben keine Lust, der Kollateralschaden des Brexits zu werden.“

Das klingt hart, ist aber das, was droht. Wenn das Königreich ohne Abkommen aus der EU fiele, müsste die Republik Irland sofort Grenzkontrollen zum britischen Nordirland einrichten und WTO-Zölle erheben. Über die Vorbereitungen spricht Coveney nicht – zu heikel. Aber die nackten Zahlen zeigen, was auf beiden Seiten auf dem Spiel steht.

14 000 Lkw fahren täglich von Nord nach Süd und umgekehrt, teils auch mehrfach. Die Komponenten für den Likör Baileys zum Beispiel müssen fünf Mal die Grenze überqueren, bis eine Flasche fertig ist. Kontrollen würden den Warenverkehr verlangsamen, Zölle das Produkt verteuern. Natürlich geht es um weit mehr als Baileys.

Besonders stark würde ein No-Deal die Landwirtschaft treffen

Besonders stark würde ein No-Deal die Landwirtschaft auf der Insel treffen. 300 000 Menschen arbeiten in der Branche, 40 Prozent der irischen Agrar-Exporte gehen ins Vereinigte Königreich. Die Briten kaufen die Hälfte des irischen Rindfleischs, ein weiterer Batzen durchquert das Königreich, um etwa in die übrige EU exportiert zu werden. Im Falle eines No-Deals rechnet Irlands Bauernpräsident Joe Healy mit Zöllen in Höhe von 40 Prozent. „Unser Rindfleisch“, sagt er, „hat ohne Deal keine Zukunft.“

Healy selbst ist Milchbauer, 100 Rinder, eine mittelgroße Farm, solides Einkommen. Während große Unternehmen die Brexit-Turbulenzen wohl noch wegstecken könnten, würden kleine und mittlere bluten – und zwar auf beiden Seiten. Satte 85 Prozent des Einkommens nordirischer Bauern hängen an EU-Subventionen, eine gewaltige Zahl. Gemessen daran seien die neuen Vorschläge aus London „rubbish“, sagt Healy, „Blödsinn“. Und trotzdem gibt es da etwas, das für ihn schwerer wiegt: „Für uns beginnt und endet alles bei der Frage des Friedens.“

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Murough Lions (li.) sprüht das Bild einer Kurden-Kämpferin auf die „Peacewall“. Er hofft, dass ein harter Brexit die Wiedervereinigung mit Irland befördert. © Mäckler

Das Karfreitagsabkommen hat etwas Einzigartiges geschafft: eine Balance herzustellen, mit der selbst die unversöhnlichsten Gegner leben konnten. Seither können sich die Nordiren aussuchen, ob sie sich als Briten, Iren oder als beides fühlen wollen. Genau das steht auf dem Spiel, wenn die Grenze wieder dicht ist. „Im Nordirland-Konflikt ging es immer um Identität“, sagt der Politologe Duncan Morrow. „Der Brexit stellt die Identitätsfrage neu.“

Morrow lehrt an der Universität von Ulster, Schwerpunkt: Friedensforschung. Ein schlaksiger Mann, der selbst die härtesten Einsichten mit einem Lächeln im Gesicht vorträgt. Der Frieden, sagt er, sei kein erreichter Zustand, sondern ein Prozess und deshalb labil. Dann erzählt er von der IRA, die sich Ende der 60er-Jahre in wenigen Monaten zur Terrororganisation entwickelte. „Ich sage nicht, dass es wieder passiert. Aber wir sollten die Dynamik nicht unterschätzen.“

Das Parlament in Belfast ist seit drei Jahren geschlossen

Dass der Frieden überhaupt hält, ist schon deshalb erstaunlich, weil Nordirland seit einem Streit der zwei großen Parteien Sinn Fein und DUP keine Regierung mehr hat. Das Parlament in der Hauptstadt Belfast ist seit drei Jahren geschlossen, trotzdem geht das Leben weiter. In den Außenbezirken hat sich der alte Industriecharakter der Stadt erhalten. Backsteingebäude, Hochöfen. Die zwei höchsten Kräne heißen David und Goliath. Sie gehören zur Werft „Harland & Wolff“, die vor gut 100 Jahren die Titanic baute. Dass die Werft vor Kurzem Insolvenz anmeldete, wirkt im Brexit-Wirrwarr wie ein dunkles Vorzeichen.

Einem harten Brexit könnten in Nordirland in kurzer Zeit 40 000 Arbeitsplätze zum Opfer fallen – gerade in Belfast könnte sich der Frust entladen. Hier leben Katholiken und Protestanten noch weitgehend getrennt voneinander. Durch manche Viertel laufen „Peacewalls“, meterhohe „Friedensmauern“, die Gewalt zwischen den Gruppen verhindern sollen. Abends, Punkt 18 Uhr, werden die schweren Metalltore geschlossen. Jeder hier weiß, dass er dann besser auf der richtigen Seite steht.

Lesen Sie auch: Brexit-Abkommen: Brechen die Tories bei einem No-Deal-Austritt in sich zusammen?

Und die Mauern existieren nicht nur zwischen den Vierteln, sie existieren nach wie vor auch in den Köpfen. Hier gibt es Menschen wie die 16-jährige Rebecca, Protestantin, die sagt, sie habe „vor einem Jahr zum ersten Mal mit einem katholischen Jungen gesprochen“. Ihre Eltern wissen davon, aber nach Hause einladen würde sie ihn nie. Es gibt Menschen wie Murough Lions, Mitte 40, Katholik, der an einem Mittwochmorgen im Oktober das Bild einer Kurden-Kämpferin auf die „Peacewall“ sprüht und auf den harten Brexit hofft – „weil er der Wiedervereinigung mit Irland nutzen könnte“ (siehe dazu auch Artikel unten). Und es gibt Menschen wie Karl Porter, 33, der die Friedensmauer auf der anderen, der protestantischen Seite bemalt. Der harte Brexit könne vieles sein, sagt er. Auch der Auslöser neuer Gewalt.

Was, wenn es kommt, wie viele befürchten? Wenn auf einmal die EU-Gelder für die vielen Aussöhnungsprojekte fehlen, wenn Arbeitsplätze wegfallen, wenn der Frust das Erreichte zunichtemacht? Was, wenn es normal wird, dass eine Gruppe wie die „Neue IRA“ Menschen tötet –wie Mitte April eine 29-jährige Journalistin in der Grenzstadt Londonderry? Und was, wenn sich der britische Hasardeur Boris Johnson nicht darum schert?

Die EU betont, sie stehe an der Seite Irlands, und hat den Druck auf London noch mal erhöht. Bis Freitag müsse es einen Durchbruch geben, heißt es. Johnson sieht indes die EU am Zug und schließt eine weitere Verzögerung des Brexits aus. Zwar zwingt ihn ein Gesetz, den Aufschub im Notfall zu beantragen – aber im Brexit-Poker ist nichts undenkbar. Was wird nach dem 31. Oktober, dem Brexit-Datum, passieren? „Das ist die 6-Millionen-Euro-Frage“, sagt der Ex-Diplomat Peadar Carpenter und schaut auf den Riss im Asphalt, die unsichtbare Grenze zwischen Nord und Süd, an der bis vor 20 Jahren noch Krieg herrschte. Er weiß nur eins: „In diese Zeiten will niemand hier zurück.“

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