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Mensch oder Tier? Neue EU-Regel soll vor Antibiotika-Resistenzen schützen - Tierärzte laufen Sturm

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Von: Andreas Schmid

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Bei einer Demonstration hält eine Person ein Schild gegen den Einsatz von Reserveantibiotika in der Tierzucht
In der Tierzucht kommen teils sogenannte Reserveantibiotika zum Einsatz. Bald könnte damit jedoch Schluss sein - was nicht jedem gefällt. © Noah Wedel/Imago

In der EU tobt neuer Streit: Der Einsatz von Reserveantibiotika an Tieren soll beschränkt werden. Der Tierärzteverband wütet - auf Anfrage von Merkur.de erheben beide Seiten Vorwürfe.

Brüssel - Es geht um die Gesundheit – und zwar auf einem Feld, auf dem es sehr schnell ernst werden kann: In der EU tobt ein Streit um den Einsatz von Reserveantibiotika bei Tieren. Eine neue Regulierung ist geplant. Auch, um neue, für den Menschen gefährliche Resistenzen zu vermeiden. Doch natürlich haben auch Tiere ein Anrecht auf Gesundheit, argumentiert die Gegenseite. Deutsche Tierärzte haben angesichts der Pläne große Sorge – und laufen Sturm.

Im Fokus steht die EU-Tierarzneimittelverordnung 2019/6. Auf mehr als 40 Seiten wird darin dazu angeregt, den Gebrauch von Reserveantibiotika in der Tierhaltung weitgehend zu verbieten. 2022 soll das Gesetz in Kraft treten. Nach mehreren Jahren Verhandlung scheinen aber noch viele Fragen offen: Auf Anfrage von Merkur.de machen sich der Bundesverband Praktizierender Tierärzteverband (bpt) und die Grünen schwere Vorwürfe. Sogar von „Fake News“ ist die Rede.

Reserveantibiotika: Grünen-Politiker fordert Verbot in der Massentierhaltung

Maßgeblich für die Verordnung verantwortlich ist der EU-Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, kurz ENVI. Der Ausschuss soll festlegen, welche Antibiotika ausschließlich dem Menschen vorbehalten sein sollen, also nicht bei Tieren zum Einsatz kommen dürfen. Der Europaabgeordnete Martin Häusling war für die Grünen verantwortlicher Verhandlungsführer bei dem über Jahre andauernden Versuch, einen Beschluss zu fassen. Im Gespräch mit Merkur.de begründet der agrarpolitische Sprecher der Fraktion Grüne/EFA das geplante Reserveantibiotikaverbot für die Tiernutzung mit Vorteilen für den Menschen.

Denn aufgrund des in den letzten Jahren deutlich gestiegenen Einsatzes von Antibiotika haben Menschen Resistenzen aufgebaut. Heißt: Immer mehr Antibiotika verlieren an Wirkung. Antibiotikaresistenzen verursachten jedes Jahr rund 33.000 Tote innerhalb der EU, weil die Wirkung abhandengehe, erklärt Häusling. Auch kreiszeitung.de berichtete kürzlich darüber*.

Die Tierhaltung trage massiv zu der sich weiter ausbreitenden Resistenzen bei; deswegen müsse gegengesteuert werden. Reserveantibiotika – also Stoffe, die bei Infektionen mit Bakterien eingesetzt werden, die gegen gängige Antibiotika bereits resistent sind – dürften daher nicht mehr in der Tiernutzung zum Einsatz kommen, fordert er: Sie sollen dem Menschen vorbehalten sein. „Die Zahlen sind drastisch, wir müssen reagieren.“

EU-Plan: Tierärzteverband poltert - „das würde den Tod vieler Tiere bedeuten“

Der Tierärzteverband ist anderer Meinung. Er hat eine Unterschriftenkampagne gestartet. Sie soll die deutschen Europaabgeordneten zum Umdenken bewegen. „Tierhalter müssen erfahren, was in Brüssel weitgehend im Verborgenen vor sich geht und welche Konsequenzen die zu befürchtende Entscheidung für ihre Tiere haben wird“, heißt in dem Aufruf. Fakt sei, „dass das Europäische Parlament wissenschaftliche Fakten ignoriert und nicht nur, wie vorgegaukelt wird, Nutztiere von einem Anwendungsverbot betroffen wären, sondern alle Tierarten“, erläuterte BPT-Präsident Siegfried Moder in einer Pressemitteilung.

„Zum Wohl aller Tiere müssen wir uns deshalb dafür einsetzen, dass alle für die Tiermedizin zugelassenen Antibiotika auch in Zukunft weiter zur Behandlung zur Verfügung stehen. Anderenfalls würde es schlimmstenfalls den Tod vieler Tiere bedeuten“, folgert Moder. Bestimmte Tiere seien auf Antibiotika angewiesen. Man erkenne zwar die Nachteile eines übermäßigen Einsatzes von Antibiotika in der Tierhaltung, doch man dürfe nicht generalisieren. „Deshalb macht es wenig Sinn, den Antibiotikaeinsatz bei Tieren immer weiter zu reglementieren, anstatt dort genauer hinzuschauen, wo Antibiotika inflationär eingesetzt werden und Resistenzen in der Masse wirklich entstehen.“

Reserveantibiotika: „Für mich steht die menschliche Gesundheit über den Interessen einer billigen Mast“

Häusling kann bei dieser Kritik nur mit dem Kopf schütteln. Das Verbot der Anwendung von Reserveantibiotika beziehe sich ausdrücklich auf die Massen- nicht die Einzeltierhaltung: „Wir wollen nicht, dass Antibiotika weiter großflächig in der Mast verwendet werden. Sie dürfen nicht eingesetzt werden, um Missstände in der Tierhaltung auszugleichen.“ In der Hühner- oder Putenhaltung würden Antibiotika wie Colistin ins Getränkewasser oder Futter gemischt werden, sagt der frühere hessische Landtagsabgeordnete. „Das wird dort angewendet, obwohl 99 Prozent der Tiere überhaupt nicht krank sind. Das ist ein Problem, weil zur Genüge festgestellt wurde, dass antibiotikaresistente Keime auf dem Fleisch feststellbar sind.“ Daher müsse man den Einsatz von Reserveantibiotika zwingend einschränken.

Der Plan sehe nicht vor, diese Regelungen auch auf Einzeltiere zu beziehen, betont Häusling: „Wir haben ausdrücklich gesagt, dass die Anwendung von Reserveantibiotika in der Einzeltieranwendung bei lebensbedrohlichen Zuständen für das Tier erlaubt ist.“ Dass der Tierärzteverband mit dem Lissaboner Vertrag, in dem Tiere als „fühlende Wesen“ anerkannt werden, argumentiert, sei „völliger Quatsch“, denn es gehe explizit um die Massentierhaltung „und nicht darum, dass wir Tiere sterben lassen.“ Man wolle den Gebrauch auf „absolute Notfälle begrenzen“ und den „pauschalen Einsatz bei gesunden Tieren“ verbieten, erklärt Häusling. „Für mich steht die menschliche Gesundheit über den Interessen einer billigen Mast.“

Martin Häusling (r) mit dem Grünen-Co-Chef Robert Habeck.
Martin Häusling (r) mit dem Grünen-Co-Chef Robert Habeck. Der Europapolitiker ist seit der Gründung der Grünen in Hessen 1979 Parteimitglied. © Mike Schmidt/Imago

Streit wegen Reserveantibiotika: „Fake-News“-Vorwürfe vonseiten des Tierärzteverbands

Der Tierärzteverband wiederum zeigt sich irritiert von den Aussagen des Grünen-Politikers. „Diese Sichtweise ist für mich total unbegreiflich“, erklärt Präsidiumsmitglied Andreas Palzer im Gespräch mit Merkur.de. „Herr Häusling verschweigt hier eine ganz wichtige Geschichte, und zwar die der juristischen und politischen Rahmenbedingungen.“ Laut Tierärzteverband sei es gar nicht möglich, die Arzneimittelverordnung 2019/6 nur auf einzelne Tierarten zu beziehen. „Rechtlich gibt es überhaupt keine Möglichkeit dazu, weil diese Ursprungsverordnung die Differenzierung zwischen den Tierarten nicht vorsieht. Entweder alle oder keiner.“

Zudem wisse jeder, „dass diese Verordnung, über die acht Jahre lang diskutiert wurde, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht noch einmal aufgemacht wird, um eine solche Ausnahme zu schaffen.“ Außerdem sei im Diskussionsprozess bereits verhandelt worden, ob man das Verbot für einzelne Tierarten aufweichen könnte. „Aber das war politisch nicht mehrheitsfähig.“ Der in der Nähe des Bodensees praktizierende Tierarzt kommt daher zu einem klaren Fazit: „Wenn der Häusling-Bericht jetzt so durchgezogen wird, betrifft das definitiv alle Tierarten.“ Häuslings Argument, den Einsatz von Reserveantibiotika bei „absoluten Notfällen“, also wenn Tiere vor dem Sterben stünden, zu erlauben, sei daher nicht haltbar. „Die Tiere leiden und sterben, weil sie keine Behandlung mehr bekommen“, warnt Palzer.

Häusling wiederum kontert, der Tierärzteverband verbreite Falschbehauptungen und argumentiere „unsachlich“. „Natürlich ist die Unterscheidung zwischen den Tiergruppen regelbar. Diese Differenzierung kann man in jeder Rechtsverordnung vornehmen.“ Aufgrund der aktuellen Verordnung sei es nicht möglich, „aber genau das ist ja das Problem.“ Deshalb habe seine Fraktion eine entsprechende Resolution eingebracht, damit die Kommission diese Unterscheidung vornehmen könne. Palzer lassen die Aussagen Häuslings derweil „etwas sprachlos“ zurück. Der Tierarzt sagt in Richtung des Europaabgeordneten: „Wie man uns Fake News unterstellen kann, ist total unbegreiflich.“

Reserveantibiotika: Tierärzteverband setzt auf EMA-Empfehlung und One-Health-Ansatz

Der Tierärzteverband wundert sich über die Sichtweise von Teilen des EU-Ausschusses. Dass sich über eine „klare Empfehlung“ der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA) hinweggesetzt werde, sei „unfassbar“, meint Palzer. „Die Humanmediziner sagen, die Humanmedizin sei gefährdet. Man kann aber doch nicht ernsthaft davon ausgehen, dass die EMA einen Verordnungsentwurf vorlegt, der die Humangesundheit gefährdet. Wir reden hier von der EMA – Profis, denen wir bei der Corona-Impfstoffentwicklung vertrauen. Ich kann das nicht nachvollziehen.“

Der Hintergrund: Die EMA hatte dem Ausschuss eine Empfehlung vorgelegt, zusammen mit der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) sowie der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). In dem Papier werden Kriterien genannt, um die Klassen von Antibiotika festzulegen, die laut den Experten dann bei Tieren eingesetzt werden dürfen.

In der Empfehlung werden auf Basis des One-Health-Ansatzes Human- und Tiermedizin gleichermaßen berücksichtigt. Simpel ausgedrückt vertritt der One-Health-Ansatz die Auffassung, dass die Gesundheit des Menschen eng mit der von Tieren und Umwelt zusammenhängt. Angesichts der EMA-Empfehlung, nur gewisse Antibiotika für die Tiermedizin zuzulassen, kann der Tierärzteverband die „pauschale Verbotsposition“ unter anderem der Grünen nicht nachvollziehen. Ohnehin würden bei Tieren vergleichsweise wenig Antibiotikaklassen angewendet, die auch in der Humanmedizin verfügbar sind.

Reserveantibiotika: CSU-Politikerin Mortler will Problem „gemeinsam meistern“ - EVP-Fraktion noch unschlüssig

Welche (Reserve-)antibiotika in Zukunft ausschließlich dem Menschen vorbehalten sein sollen wird im September entschieden. Nicht alle Fraktionen haben sich bereits klar positioniert. Eine rigorose Regulierung fordern die Grünen. Die EVP-Fraktion, der die CDU/CSU angehört, ist noch uneins. Die Europaabgeordnete Marlene Mortler (CSU) plädiert dafür, auch die Tiermedizin in die Entscheidungsfindung miteinzubeziehen. „Sektorenübergreifende Probleme können Human- und Veterinärmedizin nur gemeinsam meistern“, sagt Mortler gegenüber Merkur.de.

Die frühere Drogenbeauftragte der Bundesregierung sitzt ebenfalls im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und könnte sich vorstellen, dass Antibiotika bei Tieren weiter zum Einsatz kommen. „Auch erkrankte Tiere haben ein Recht auf adäquate Behandlung“, meint die gebürtige Mittelfränkin. „Je enger die Schlinge gezogen wird, desto weniger Antibiotika stehen am Ende zur Verfügung. Es darf zu keinem Therapienotstand kommen – weder für Menschen, noch für Tiere.“

Die Debatte um den Einsatz von Reserveantibiotika wird den EU-Ausschuss sowie auch den Tierärzteverband wohl noch eine Weile beschäftigen. Aktuell liegen die Positionen des 1919 gegründeten Zusammenschlusses und einzelnen Europaabgeordneten noch weit auseinander. Das liegt neben inhaltlichen Dingen offenbar auch an unterschiedlichen Rechtsauffassungen. Bis der Beschluss im Januar 2022 in Kraft tritt, sollten diese juristischen Rahmenbedingungen besser geklärt sein. (as) *kreiszeitung.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA

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