„Harakiri“, „Wahnsinn“, „aufgehetzte CSU“: Kommentatoren sehen Merkel angezählt

Was wird aus der Großen Koalition? In der Presse mangelt es nicht an drastischen und martialischen Deutungen des Asylstreits um Angela Merkel und Horst Seehofer.
München - Das politische Berlin ist in Aufruhr: Am Streit um Zurückweisungen an der deutschen Grenze scheint die noch junge GroKo tatsächlich zerbrechen zu können, wie merkur.de* schreibt - und zwar nicht entlang der Sollbruchstelle zwischen Union und SPD. Sondern zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU.
Ob es soweit tatsächlich kommt, das steht noch in den Sternen. Ebenso wie die Antwort auf die Frage, was die Folgen einer offenen Konfrontation der Unionsparteien für die Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ganz allgemein die Politik in Deutschland wären - und was die Folgen eines deutschen Alleingangs für die EU.
Auch in den Kommentarspalten der deutschen und internationalen Zeitungen blühen die Spekulationen, Deutungen und harschen Urteile. Für Aufsehen sorgt alleine schon die Bild-Zeitung - die Kanzlerin Angela Merkel offen anzählt. Ein Überblick über die Meinungen aus dem Blätterwald:
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„Bild“ sieht die Koalition am Abgrund - und die Schuld bei Merkel:
„Wenn Seehofer die Sache durchzieht, muss Merkel ihren Innenminister rauswerfen. Die Regierung wäre damit am Ende. Das ist schierer Wahnsinn. Angela Merkel riskiert an dieser Stelle die politische Stabilität im Land, die gewählte Regierung, die Einigkeit ihrer stolzen Partei, Neuwahlen mit einem weiteren Aufstieg radikaler Kräfte, all das für eine Politik, die die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland und in ihrer Partei so nicht mehr will. Auch die CSU riskiert viel mit ihrer Sturheit, aber sie hat in der Sache recht.“
Die „Süddeutsche Zeitung“ macht ein für Bayern gefährliches „Harakiri“ der CSU aus. Merkel stehe jetzt unter Zugzwang:
Die Frage ist auch, ob dieser Flüchtlingsstreit das Risiko wert ist: Er ist von der CSU eher künstlich hochgezogen worden. Es geht letztlich gar nicht so sehr um die Abweisung von Flüchtlingen direkt an der Grenze, es geht um irgendeinen Flüchtlings-Großkonflikt, um sich von der Kanzlerin abzugrenzen und Anschluss an die Anti-Flüchtlingsstimmung zu kriegen. Die Abweisung der Flüchtlinge direkt an der Grenze, die von der CSU propagiert wird, ist bayernfeindlich, weil sie eine radikale Schließung der Grenzen und scharfe Grenzkontrollen voraussetzt. Bayern als Land des Transfers und der schnellen Wege nach Österreich, Italien und Osteuropa würde sich abriegeln - das ruiniert Wirtschaft und Tourismus. Man kann die Flüchtlinge auch im Inland prüfen und gegebenenfalls aus- und abweisen. Aber das bringt nicht die Plakativität, um die es der CSU heute zu tun ist. Wie reagiert Merkel? Sie muss jetzt etwas wagen. Leute, die jedes Risiko scheuen, gehen das größte Risiko ein.
„De Standaard“ aus Belgien erlebt eine „von extremen Rechten aufgehetzte“ CSU
„Was die von der extremen Rechten aufgehetzten Christdemokraten aus Bayern wollen, ist - nicht nur laut Bundeskanzlerin Angela Merkel -, sondern auch Experten für europäisches Recht zufolge, unvereinbar mit den europäischen Regeln für Asyl und Migration. (...) Wenn sich nun selbst Deutschland nicht mehr daran gebunden fühlen sollte, ginge es in Europa völlig drunter und drüber. Sollte das führende Land in der Europäischen Union seine Grenzen schließen, dann würden andere Länder es für legitim erachten, dasselbe zu tun. Dann bliebe von der europäischen Solidarität nichts mehr übrig und es hieße jeder für sich allein.“
Die Londoner „Times“ sieht eine „isolierte“ Kanzlerin
„Die Bundeskanzlerin hat wenig Unterstützung von ihren Parteifreunden. Und Horst Seehofer von Angela Merkels bayerischer Schwesterpartei CSU ist im Herbst bei regionalen Wahlen mit der immigrationsfeindlichen Alternative für Deutschland konfrontiert. Deutschlands Konservative scharen sich hinter der Forderung nach stärkeren Maßnahmen, und damit isolieren sie die Bundeskanzlerin. Tatsächlich scheint die von (Österreichs Kanzler Sebastian) Kurz angestrebte „Achse der Willigen“ Merkel zu umzingeln. Das könnte sie trotz ihrer Koalition mit den Sozialdemokraten zu einem Rechtsruck zwingen oder dazu, das Handtuch zu werfen. (...) Sie kann nicht hoffen, dass sich die Zeit vor 2015 zurückdrehen lässt, als die EU-Regeln anscheinend noch eingehalten wurden. Wenn es der politischen Mitte nicht gelingt, die Forderung nach einer Revision des Systems der Migration zu entsprechen, wird die Stimme der Populisten immer kreischender werden.“

Die Deutsche Welle erlebt die GroKo zwischen „Showdown“ und „Königsmord“:
Von den Erfolgen der Rechtspopulisten der AfD durchs Dorf gejagt, rechnet die CSU, rechnen Teile der CDU mit Merkel ab: Nicht nur mit ihrer Asylpolitik. Sondern mit dem gesamten System Merkel. Im Herbst wird in Bayern gewählt. Dann die AfD in Schach zu halten, ist oberstes Ziel der CSU. Notfalls gegen Merkel, gegen die eigene Regierung. Kann die Kanzlerin das Ruder noch einmal herumreißen? Schwer vorstellbar nach diesem Tag.
Die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ sieht die Flüchtlingspolitik instrumentalisiert:
„Die Debatte um die Flüchtlingspolitik hat sich von der Realität entkoppelt, und im politischen Berlin machen alle dabei mit, sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Gegen Merkel zu sein funktioniert, gegen Merkel zu sein verkauft sich neuerdings auch gut. Wenn diese stürmischen Tage vorbei sind, wäre es Zeit für einen Moment der Besinnung im Regierungsviertel. Weniger Adrenalin, mehr Nüchternheit, mehr Themen.“
Die „Schwäbische Zeitung“ attestiert der CSU ein Wahlkampfmanöver mit hohem Risiko - und Merkel Autoritätsverlust:
„Überfallartig demontiert die CSU Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im Oktober wird in Bayern gewählt und die Christsozialen spielen höchstes Risiko. Umfragen signalisieren, dass eine Mehrheit in Deutschland die harte Linie von Innenminister Horst Seehofer in Migrationsfragen für richtig hält. Davon will die CSU im Herbst profitieren. Doch dafür - salopp ausgedrückt - national wie international alles über die Klinge springen zu lassen, ist ein Spiel mit vielen Unbekannten. Merkel-Kenner verweisen darauf, dass die Kanzlerin bei einer weiteren Eskalation eher zurücktreten als nachgeben wird. Auch wenn sich in der CDU-Fraktionssitzung offensichtlich eine Mehrheit hinter Merkel versammelte, ihre Autorität hat massiven Schaden erlitten. Die CSU stellt auf diese Weise die Regierungsfähigkeit der Großen Koalition grundsätzlich infrage und läutet so das Ende der Ära Merkel ein.“
Der „Mannheimer Morgen“ schreibt von einer „gerupften“ Kanzlerin:
„Angela Merkels Macht existiert derzeit nur noch auf dem Papier, nämlich dem Grundgesetz, wonach sie die gewählte Kanzlerin ist. In der politischen Praxis ist die amtierende Regierungschefin aber gerupft worden wie ein Huhn nach der Schlachtung. Und zwar von der CSU. Horst Seehofer, ihr Innenminister, hat in der Asylpolitik den Aufstand vollzogen und die Christsozialen hinter sich versammelt.“
Der Reutlinger „General-Anzeiger“ prophezeit eine Regierungskrise und rollende Köpfe:
"Noch scheuen die Akteure vor dem Bruch zurück. Sie wollen noch einmal verhandeln, noch einmal nachdenken. Das klingt vernünftig, löst aber kein Problem. Die CSU ist weiter gegangen, als klug war. Merkel hat ein paar Meter Boden gut gemacht. Die Regierungskrise ist nicht beendet, sie wird Opfer fordern. Warum sich in Berlin niemand die Frage stellt, was es mit unserem Land macht, wenn ein kurzfristiges Machtkalkül eine funktionsfähige Regierung stürzt, ist beunruhigend."
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fn/dpa/AFP