Bachmut vor dem Fall? Ausgerechnet Prigoschin zweifelt – Folgen scheinen unklar
Das ukrainische Militär plant offenbar einen Rückzug aus der umkämpften Stadt Bachmut. Experten sind sich uneins über die Folgen für den Kriegsverlauf.
Donezk – Seit mehreren Wochen tobt im Ukraine-Krieg ein erbitterter Kampf um die Stadt Bachmut im Oblast Donezk. Über 70.000 Einwohner hatte die Stadt vor dem Beginn des Krieges. Mittlerweile sind nur noch knapp 6.000 Zivilisten in der stark zerstörten Stadt verblieben. Russische Soldaten und Wagner-Söldner belagern die Stadt von Osten und Norden aus. Die ukrainischen Verteidiger hielten das zur „Festung“ ernannte Bachmut bisher. Doch das könnte sich in den kommenden Tagen ändern. Denn Kiew bereitet offenbar einen Rückzug vor. Die militärischen Folgen dieser Maßnahme sind unklar.
Ukraine-Krieg: Bachmut vor dem Fall? Kiew bereitet offenbar Rückzug vor
Die aktuelle Lage in Stadt ist verheerend. Am Wochenende meldete der Chef der Wagner-Söldner, Jewgeni Prigoschin, die Einnahme mehrerer kleiner Siedlungen im Nordosten von Bachmut. Die russischen Streitkräfte hatten in den zurückliegenden Wochen unter hohen Verlusten versucht, die Nachschublinien der ukrainischen Truppen abzuschneiden. Offenbar mit Erfolg. Die Hauptversorgungslinien nach Kramatorsk und Konstantinowka stehen unter russischer Kontrolle oder wurden zerstört. Die einzige verbleibende Route – in Richtung Westen nach Tschassiw Jar – befindet sich in ebenfalls Reichweite der russischen Artillerie.

In der ukrainischen Politik ließ sich daraufhin in den vergangenen Tagen bereits ein Wechsel in der Kommunikationsstrategie ausmachen. Präsident Selenskyj erklärte in der Vergangenheit noch, niemand werde Bachmut aufgeben. Mittlerweile lautet die einheitliche Narrative: Man werde die Stadt verteidigen, jedoch nicht um jeden Preis. Kiew könnte einen endgültigen Rückzug aus der Stadt also bereits vorbereiten, um eine vollständige Einkreisung durch die russischen Soldaten zu verhindern.
Wagner-Chef Prigoschin sieht „erbitterten Widerstand“ in Bachmut – Zweifel an Rückzug
Ausgerechnet Wagner-Chef Prigoschin zweifelt die Meldungen über einen bevorstehenden Rückzug der ukrainischen Truppen jedoch an. Am Mittwoch erklärte er, dass die ukrainischen Truppen ihre Stellungen sogar noch ausbauen würden. „Die Streitkräfte der Ukraine in Artemivsk (die russische Bezeichnung für Bachmut, Anm. d. Red.) bauen zusätzliche Reserven auf und versuchen mit aller Kraft, die Stadt zu halten. Zehntausende Soldaten der ukrainischen Armee leisten erbitterten Widerstand, das Blutvergießen der Kämpfe nimmt täglich zu“, zitiert die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti „Putins Koch“.
Prigoschin hatte sich bereits in der vergangenen Woche öffentlich beim Kreml darüber beklagt, dass man seinen Wagner-Söldnern die nötige Munition vorenthalte, um Erfolge in der Region zu erzielen. Die bisher in der Schlacht um Bachmut erlittenen Verluste sind immens. Alleine die Wagner-Söldner sollen etwa 30.000 rekrutierte Sträflinge verloren haben. Diese Angaben lassen sich aktuell nicht unabhängig überprüfen.
Eroberung von Bachmut wäre für Militär-Experte Masala mehr als ein symbolischer Sieg
Unklar scheinen aktuell noch die Auswirkungen zu sein, die ein ukrainischer Rückzug aus der Stadt auf den Kriegsverlauf hätte. Unbestritten hätte die Eroberung von Bachmut einen symbolischen Wert für die russischen Streitkräfte. Nach der Einnahme der Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk im vergangenen Sommer blieben die Gebietsgewinne für die Armee von Wladimir Putin aus. Erst im Januar konnte der Kreml mit der Einname der Kleinstadt Soledar im Nordosten von Bachmut wieder einen militärischen Erfolg vermelden.
Die Einnahme von Bachmut nach monatelangen Kämpfen könnte Moskau also auf jeden Fall für die Kriegspropaganda medial ausschlachten. Doch hätte sie auch eine militärische Bedeutung? Das befürchtet zumindest der Militär-Experte Carlo Masala gegenüber ntv. „Wenn Bachmut fällt, dann können die russischen Truppen ca. 80 Kilometer dahinter einfach frei vorrücken, weil da freies Gelände ist und hätten dann sehr viel vom Donbas schon besetzt.“
Ukrainische Experten: Fall von Bachmut hätte keine Auswirkungen auf den Kriegsverlauf
Zu einer anderen Einschätzung kommt jedoch der ukrainische Militäranalyst Oleh Schdanow. Er sagte der Nachrichtenagentur AP, ein Rückzug aus Bachmut habe keinerlei Auswirkungen auf den Kriegsverlauf. Seine Einschätzung begründete er vor allem mit dem Gelände westliche der Stadt. Die ukrainischen Verteidiger hätten sich in der 15 Kilometer entfernten Stadt Tschassiw Jar bereits eine Stellung auf einer erhöhten Position aufgebaut, zu der sich die Soldaten aus Bachmut zurückziehen könnten. Die Stadt selbst habe durch die starke Zerstörung keinen strategischen Wert mehr.
General Viktor Nasarov, Militärberater der ukrainischen Armee, betonte ebenfalls die geringe taktische Bedeutung von Bachmut. Es gehe für Kiew viel mehr darum, Gegenwehr gegen jede Offensiv-Bemühungen der russischen Armee zu leisten. „Warum greifen die Russen in Bachmut an? Weil es für sie keine anderen aussichtsreichen Orte gibt. Warum ist es für die Ukraine wichtig, Bachmut zu verteidigen? Weil es unser Land ist“, erklärte Nasarov im Interview mit dem Spiegel. (fd)