1. Startseite
  2. Politik

Wohnungslosigkeit in Bayern steigt: „Das trifft die Mitte der Gesellschaft“

Erstellt:

Von: Andreas Schmid

Kommentare

Ein Mann isst am Münchner Stachus eine Mahlzeit, die er von Helfern erhalten hat.
Ein Mann isst am Münchner Stachus eine Mahlzeit, die er von Helfern erhalten hat. Die Zahl der Wohnungslosen in Bayern steigt. © Matthias Balk/picture alliance

Obdachlosigkeit in Bayern scheint ein Tabuthema zu sein. Gesellschaftlich ausgeklammert, politisch lückenhaft erfasst. Denn die Zahlen, die vorliegen, sind laut Experten fehlerhaft und viel zu niedrig.

München – Offiziell leben rund 18.000 Menschen in Bayern in Obdachlosenunterkünften. Das geht aus einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Der Freistaat selbst stützt sich auf dieselben Zahlen, führte in den vergangenen zehn Jahren aber auch zwei eigene Erhebungen durch. Demnach waren es 2014 12.053 und 2017 15.517 Wohnungslose. Doch die Dunkelziffer dürfte bei den Menschen, die in Unterkünften wohnen, deutlich höher sein. Wichtig: Zu Obdachlosen, also Menschen, die auf der Straße leben, gibt es keine validen Zahlen. Sie werden dementsprechend nicht in diese Statistik mitgezählt. Als obdachlos gilt definitionsgemäß jemand, der keine Wohnung mit einem Mietvertrag besitzt.

Experte geht von mehr als 20.000 Wohnungslosen aus

Der Trend zeigt in eine bedrohliche Richtung, sagt Jörn Scheuermann, Koordinator der Wohnungslosenhilfe Südbayern. Seiner Meinung nach ist die Statistik der Bundesregierung fehlerhaft. Das macht er an einem Beispiel deutlich: Die Bundesstatistik führt 160 Wohnungslose für den Landkreis Dachau. „Wir wissen jedoch aus unserer kontinuierlichen Arbeit, dass 160 Personen alleine in der Stadt Dachau in Unterkünften untergebracht sind, im gesamten Landkreis sind es circa 300 Personen.“ Hier sei Stadt und Landkreis verwechselt worden. „Kein Einzelfall“, wie der Experte sagt. „Man muss davon ausgehen, dass deutlich mehr als 20.000 Menschen betroffen sind.“ Tatsächlich habe sich die Anzahl der Menschen ohne Wohnung in Bayern in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt.

Neben den Menschen ohne Wohnung gibt es aber noch Obdachlose, die nicht in Unterkünften untergebracht sind. Hier kritisiert die Linke: „Dass es noch nicht einmal belastbare Zahlen zum tatsächlichen Ausmaß der Obdachlosigkeit gibt, ist erschreckend und nicht hinnehmbar“, wie die Fraktionsvize Nicole Gohlke dem Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA sagt.

Unterschied Wohnungs-/Obdachlos

Wohnungslos: Keine eigene Wohnung, Leben in einer Notunterkunft oder bei Freunden.

Obdachlos: Leben auf der Straße.

Wohnungslose in Bayern: Diese Menschen sind betroffen

Laut Auskunft der Bundesregierung zählt Bayern 17.910 untergebrachte wohnungslose Personen. Sie leben laut im Sozialgesetzbuch geregelten Bestimmungen zum Beispiel in Obdachlosenheimen. Bei den Zahlen, die sich auf den Stichtag 31. Januar 2022 beziehen, fällt auf: Zwei Drittel der untergebrachten Wohnungslosen in Bayern sind Männer (11620), der Anteil der Frauen stieg zuletzt jedoch leicht von 34 Prozent (2014) auf 37 Prozent an. Insgesamt sind der Bundesregierung zudem mehr als 5000 Fälle von wohnungslosen bayerischen Paaren mit Kindern bekannt. Bei rund 1000 Personen handelt es sich um Rentner, die älter als 65 Jahre alt sind und sich keine eigene Wohnung mehr leisten können37.

Das Wohnungslosenbild wird insgesamt heterogener. „Die Zeiten, in denen vor allem Männer betroffen waren, sind vorbei“, sagt die Münchner Bundestagsabgeordnete Gohlke. „Auch in Bayern finden sich viele Frauen, Alleinerziehende, Familien oder Seniorinnen und Senioren unter den Wohnungslosen.“

Die meisten dieser Menschen leben in München. Die Landeshauptstadt zählt 8975 untergebrachte Wohnungslose und damit fast die Hälfte von ganz Bayern. Auf eine vierstellige Zahl kommt sonst nur Nürnberg (1910). Dahinter folgt Augsburg mit 790 untergebrachten Wohnungslosen. Im ländlichen Raum ist die Anzahl dagegen vergleichsweise gering. Dort leben auch weniger Menschen auf der Straße, wie uns Scheuermann im Namen der Wohnungslosenhilfe Südbayern sagt. Sie ziehe es in die Städte. In München leben demnach 500 bis 1000 Menschen auf der Straße, in Augsburg 60 bis 100.

„Wohnungslosigkeit trifft mittlerweile die Mitte der Gesellschaft“

„Wohnungslosigkeit trifft mittlerweile die Mitte der Gesellschaft“, sagt Scheuermann. „Wir betreuen Menschen, die keinen Wohnraum finden, aber vollbeschäftigt sind und in einer 40- bis 50-Stunden-Woche arbeiten.“ Ihr Verdienst aus dem Niedriglohnsektor reiche schlicht nicht für das Mietzinsniveau.

Die bayerische Landesregierung hat sich die Bekämpfung der Wohnungslosigkeit in den Koalitionsvertrag geschrieben. „Wir bauen die Unterstützung für Obdach- und Wohnungslose weiter aus“, heißt es da. Zudem initiierte der Freistaat die Obdachlosenhilfe Bayern. So seien in den vergangenen drei Jahren 70 Förderprojekte ins Leben gerufen worden, teilt die Stelle auf Anfrage mit. „Wir wollen Menschen in Wohnungs- oder Obdachlosigkeit helfen oder sie davor bewahren.“

Tatsächlich ging der Bestand an Sozialmietwohnungen zuletzt jedoch zurück, wie aus einer Auskunft der Bundesregierung aus dem Jahr 2021 hervorgeht. „Das Thema Wohnungslosigkeit ist in Bayern politisch leider viel zu wenig im Fokus“, kritisiert Linke-Politikerin Gohlke. Bundesregierung und bayerische Staatsregierung hätten „in den letzten Jahren leider tatenlos zugesehen, wie zehntausende Sozialwohnungen abgeschafft wurden“. Das zuständige bayerische Bauministerium verweist auf Anfrage darauf, dass Mietwohnungen, die aus der Sozialbindung gefallen sind und so nicht mehr in der Statistik erscheinen, „häufig weiterhin als bezahlbarer Wohnraum zur Verfügung“ stünden.

Abbau bayerischer Sozialmietwohnungen

JahrAnzahl Wohnungen
2011159.000
2012158.000
2013150.500
2014147.078
2015135.823
2016138.036
2017135.619
2018136.904
2019135.655
2020135.346

„Die Schaffung von sozialem Wohnraum wurde komplett verschlafen“

Immerhin: Neben dem Abbau von Sozialwohnungen werden auch neue gebaut. Hier ist der Trend positiv. 2012 wurden noch 1197 Mietwohnungen in Bayern im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung bewilligt. 2017, als die Landesregierung aus CSU und Freien Wählern die Arbeit aufnahm, waren es 4947. Zwei Jahre später 5965. Zudem wurden die Mittel der Wohnraumförderung laut Bauministerium dieses Jahr erhöht, sodass rund eine Milliarde Euro für die bayerischen Förderprogramme zur Verfügung steht. 

Die Linke findet das allerdings zu wenig und meint: „Wir würden heute nicht vor einem derart großen Problem stehen, wenn die Schaffung von sozialem Wohnraum nicht komplett verschlafen worden wäre.“ Hinzu kommt: Solche Unterkünfte gelten als soziale Brennpunkte, einige scheinen verwahrlost, wie ein Betroffenere unserer Redaktion erzählte. Er sprach von „menschenunwürdigen“ Zuständen. (as)

Auch interessant

Kommentare