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Palmer mit Corona-Prognose: „Geschäftsschließungen und Arbeitsverbote drohen - Impfpflicht das kleinere Übel“

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Von: Marcus Mäckler

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Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer.
Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer. © Sebastian Gollnow/dpa

Boris Palmer ist einer der bekanntesten Oberbürgermeister Deutschlands. Die Grünen wollen ihn trotzdem aus der Partei ausschließen. Im Merkur-Interview spricht er über das Verfahren.

Boris Palmer (49) ist so prominent wie umstritten, inzwischen will ihn selbst die eigene Partei, die Grünen, loswerden. Im Interview spricht Tübingens grüner Oberbürgermeister über das gerade angelaufene Ausschlussverfahren gegen ihn, kritisiert die Ministeriumsverteilung im Bund – und erklärt, warum an einer Impfpflicht nichts vorbeiführt.

Herr Palmer, richtig glücklich wirkten Ihre Parteichefs bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags nicht. Wie finden Sie ihn?

Ehrlich gesagt: Ich habe den Vertrag noch nicht gelesen, aber ich weiß jetzt schon, dass ich dafür bin. Wir sollten uns nicht aus der Verantwortung stehlen wie die FDP vor vier Jahren.

Wie finden Sie es denn, dass das Verkehrsministerium nicht an die Verkehrswendepartei geht?

Das ist schmerzhaft. Die SPD hat ihre Kernthemen alle mit Ministerien abbilden können, wir waren nicht ganz so erfolgreich. Für die Verkehrswende ist das, vorsichtig gesagt, nicht ideal.

Baerbock Außen, Özdemir Agrar – wäre es nicht andersherum besser?

Baerbock hat Völkerrecht studiert, nicht Agrarwissenschaften. Und Cem ka mit de Leut, wie man hier sagt. Das wird gut. Zugegeben, ich hätte ihn mir lieber als Innenminister gewünscht.

Grünen-OB Boris Palmer: Ausschlussverfahren der Partei ist „sehr schmerzhaft“

Ihre Partei will Sie am liebsten loswerden, das Ausschlussverfahren ist gerade angelaufen. Wie fühlt sich das an?

Das ist sehr schmerzhaft, zumal die Begründungen sehr wenig überzeugen.

In einem Jahr wird ein neuer OB gewählt. Treten Sie wieder an?

Es naht die Weihnachtszeit und das ist ein guter Moment, um innezuhalten und sich zu fragen, was man noch so vorhat. Ich plane, die Entscheidung Anfang nächsten Jahres zu treffen.

Sie sagen innehalten, dabei droht ein zweites Corona-Weihnachten. Ärgert es Sie, dass die Ampel bei der Impfpflicht zaudert?

Warten wir mal ab. Wenn wir nicht mehr klarkommen ohne eine Impfpflicht, wird die normative Kraft des Faktischen Entscheidungen erzwingen. Wir haben ein riesiges Problem in den Kliniken und mit Einschränkungen für Teile der Gesellschaft. Es gibt ein enormes Stress- und Konfliktpotenzial in der Bürgerschaft und einen Vertrauensverlust in die Institutionen. Es drohen Geschäftsschließungen und Arbeitsverbote. Das ist so gravierend und ernst, dass ich eine Impfpflicht für das kleinere Übel halte.

Wenn sie durchsetzbar ist…

Wer etwas nicht will, sagt ja immer: Geht nicht. Das ist die bequemste aller Ausreden. Aber schauen Sie, wir haben auch eine Masern-Impfpflicht für Kinder, die mit der Verfassung vereinbar ist. Für Corona wird’s dann auch nicht unmöglich sein. Zum anderen geht es nicht darum, die Impfung per Zwang durchzusetzen – niemand wird gegen seinen Willen eine Nadel im Arm haben. Es geht um Sanktionierung mit einem saftigen Bußgeld. 1000 Euro, und die Debatte wäre vorbei.

Oder das Land wäre zerrissen, wie Jens Spahn sagt.

Das Land ist schon zerrissen. Und die tägliche Unterscheidung von Geimpften und Ungeimpften verschärft die Spaltung mehr als eine allgemeine Impfpflicht.

Corona-Krise: Impfskeptiker machen Boris Palmer „fassungslos“

Kürzlich sagten Sie: Wer nicht ans Impfen glaubt, glaubt vielleicht auch nicht an die Intensivstation. Wie ernst war das gemeint?

Das war ein Appell an Impfunwillige, sich zu überlegen, ob sie das Risiko der schweren Erkrankung auch dann auf sich nehmen würden, wenn sie wüssten, sie kriegen kein Bett mehr im Krankenhaus. Fast alle würden dann die Impfung bevorzugen. Diese Leute beanspruchen die Solidargemeinschaft, um sich selbst aus dieser Solidarität auszuklinken. Das wollte ich mit meinem Gedankenexperiment zeigen.

Sie sind nah dran. Welche Erfahrungen machen Sie als OB mit Impfskeptikern?

Viele. Im Freundeskreis, in der näheren Bekanntschaft. Vor allem habe ich hunderte Zuschriften in meinem Mail-Eingang. Viele Absender sind gebildet, können formulieren, dass es einen fast in den Wahnsinn treibt. Ich kenne jedes Argument gegen die Impfung, und es macht mich fassungslos, wie falsch und faktenfrei diese Behauptungen sind. Es lässt sich wirklich kaum mehr ertragen. Mein Ehrgeiz war es immer schon, mit der Kraft der Argumente zu gewinnen. Das habe ich hier aufgegeben. Wir haben die Zeit dafür nicht mehr.

Im Juli sagten Sie selbst noch, Sie würden Ihre Kinder nicht impfen lassen...

Mein jüngster ist ein Jahr alt, und damals war die Stiko noch skeptisch, inzwischen ändert sich die Risikobewertung durch Studien positiv. Aber meine Grundposition bleibt gleich: Wir setzen immer am falschen Ende an. Statt Zehnjährige zu impfen, sollten wir die Risikogruppe in den Vordergrund rücken. Würde es uns gelingen, die 15 Prozent der Über-60-Jährigen zu impfen, die bisher nicht geimpft sind, hätten wir schon eine Halbierung der Belastung der Kliniken erreicht. Diese drei Millionen Menschen direkt anzusprechen oder auch zu verpflichten wäre leicht. Und der Gewinn wäre enorm.

Interview: Marcus Mäckler

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