Carles Puigdemont im Merkur-Interview: „Unabhängigkeit ist unsere letzte Option“

Vor einem Jahr stand er als Anführer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung im Rampenlicht. Jetzt lebt Carles Puidgemont im Exil. Im Interview mit dem Münchner Merkur äußert er sich zum weiterhin brodelnden Konflikt mit Madrid.
München – Er kommt zu Fuß, weil ihn die Wiesn-Besucher auf der Straße eh nicht erkennen. Dabei hat Carles Puigdemont, 55, vor einem Jahr die Schlagzeilen bestimmt wie kein anderer. Um ein Haar hätte der ehemalige Regionalpräsident Kataloniens die Unabhängigkeit von Spanien erklärt. Doch es kam anders. Madrid setzte ihn ab, er reiste ins Ausland und wurde schließlich verhaftet – in Deutschland.
Heute lebt Puigdemont im Exil nahe Brüssel, weil ihm daheim 30 Jahre Haft drohen. Zum Interview erscheint trotzdem ein ziemlich fröhlicher Typ, der seinen Kampf noch nicht zu Ende gekämpft hat.
Willkommen in Bayern, Herr Puigdemont. Wissen Sie eigentlich, dass es auch hier Sympathien für eine Unabhängigkeit gibt?
Ja, ich weiß. 1993 war ich als Journalist in Bayern und spürte schon damals etwas sehr Vertrautes. Wir sind gleichermaßen stolz auf unsere Identität, unsere Autonomie und Selbstbestimmung. Sie sind die wirtschaftlich stärkste Region in Deutschland, wir die reichste in Spanien...

-Oha – klingt, als wollten Sie Bayerns Separatisten unter die Arme greifen.
(lacht). Ich reiße mich nicht drum. Nein, im Ernst: Ich mische mich nicht in die Politik anderer Staaten ein.
„Ich hatte großes Vertrauen in die Unabhängigkeit der deutschen Justiz“
-Vor gut sechs Monaten wurden sie in Schleswig-Holstein verhaftet. Nehmen sie das Deutschland eigentlich übel?
In Wahrheit war das keine schlimme Erfahrung für mich. Natürlich ist es nicht schön, zwölf Tage lang im Gefängnis zu sitzen. Aber ich hatte großes Vertrauen in die Unabhängigkeit der deutschen Justiz. Ich war in guten Händen – was in Spanien nicht selbstverständlich ist. Außerdem hat meine Haft in Deutschland Spaniens und Europas Gesellschaft schockartig aufgerüttelt.
-Sie meinen, die Haft hat Ihnen genutzt?
Insofern, als sie geholfen hat zu erklären, was in Katalonien los ist. Wir stellten damals fest, dass vor allem spanische Politiker und Medien über unser Anliegen sprachen und sie stellten die Idee einer Unabhängigkeit Kataloniens viel zu einseitig dar. Sie sagte: Ihr seid reich, ihr seit egoistisch, ihr wollt Europa zerschlagen und so weiter. Aber die Sache ist viel komplexer und während meiner Haft begriffen die Leute, dass unsere Unabhängigkeit keine innerstaatliche Angelegenheit ist, sondern eine europäische.
-Trotzdem wollte sich die EU nicht in den Konflikt einmischen. Waren Sie enttäuscht?
Das bin ich noch immer. Und zwar nicht, weil die europäischen Institutionen sich klar gegen Kataloniens Unabhängigkeit ausgesprochen haben. Das respektieren wir. Wir sind enttäuscht, weil die EU zu den Verletzungen fundamentaler Rechte in Katalonien geschwiegen hat.
-Auch Kanzlerin Merkel blieb sehr passiv. Hätten Sie mehr von Ihr erwartet?
Ich verstehe, warum sie sich nicht direkt in den Konflikt einmischen wollte, das hätte ernsthaften Ärger mit Madrid erzeugen können. Aber ich denke, die deutsche Regierung versteht nun auch unsere Ziele besser als vorher.
Video: Chefredakteur Georg Anastasiadis und Redakteur Marcus Mäckler begrüßen Carles Puigdemont bei seinem Besuch zum Interview in der Redaktion des Münchner Merkur.
-Sie wurden damals abgesetzt, Katalonien hat inzwischen eine neue Regierung. Fühlen Sie sich noch als Präsident?
Dass ich faktisch kein Präsident mehr bin, ist ja offensichtlich. Aber natürlich fühle ich mich noch so. Und wissen sie auch warum? Mein Parlament hat mich nominiert, obwohl es das eigentlich nicht durfte, weil die spanische Justiz politisch missbraucht wird. Ein einziger Richter entscheidet, wer Präsident sein darf und wer nicht.
-Manche glauben, dass Sie aus Ihrem Exil nahe Brüssel noch immer die Fäden ziehen...
Ich bin kein Schattenpräsident. Aber natürlich stehe ich in Kontakt mit der katalanischen Regierung, manchmal drei Mal die Woche per Videokonferenz. Hin und wieder besuchen mich Quim Torra (der aktuelle Regionalpräsident, d.Red.) oder einzelne Minister. Wir haben ein sehr vertrautes Verhältnis. Ich meine, ich bin immer noch Mitglied des katalanischen Parlaments und Anführer der größten Fraktion. Ja, ich bin immer noch Politiker.

-Spaniens neuer Ministerpräsident Pedro Sánchez scheint Ihnen aufgeschlossener gegenüberzustehen als sein Vorgänger.
Das Vokabular und das Klima haben sich geändert, das stimmt. Es ist kein Vergleich dazu, wie sich die Rajoy-Regierung verhalten hat. Aber es sind noch immer die selben Politiker. Und der neue Generalstaatsanwalt will mich und andere noch immer wegen Rebellion anklagen. Sie nutzen schöne Worte, aber die Tatsachen sind gleich geblieben. Da liegt nichts Neues auf dem Tisch.
... dann hätte Katalonien die gleichen Rechte wie Bayern
-Sie stellen ja auch eine Maximalforderung. Würden Sie irgendetwas anderem als der Unabhängigkeit zustimmen?
Zwei Gedanken dazu: Als Spanien vor 40 Jahren seine erste demokratische Verfassung erhielt, wurde es ein föderaler Staat. Hätte sich der Föderalismus so entwickelt wie in Deutschland, hätte Katalonien also die gleichen Rechte wie Bayern, dann würden wir wahrscheinlich nicht die Unabhängigkeit fordern.
-Das deutsche Modell wäre Ihnen also genug?
Damals schon. Es ist ja das erste mal seit 40 Jahre, dass wir die Unabhängigkeit fordern. Vorher haben wir doch versucht, mehr Autonomie zu erreichen, bessere Vereinbarungen zur Steuer, unverbindliche Gespräche mit Madrid. Jetzt ist die Unabhängigkeit unsere letzte Option.
-2010 haben Katalonien und Madrid sich schon einmal in einem Statut auf mehr Autonomie geeinigt, das ging dann aber schief. Wäre es nicht einen zweiten Versuch wert?
Dem Statut stimmten damals sowohl das katalonische als auch das Spanische Parlament mit großer Mehrheit zu. Aber am Ende strich das Verfassungsgericht die entscheidenden Artikel raus. Damals gingen die Katalanen zum ersten Mal auf die Straße. Ich frage Sie: Warum sollte das Verfassungsgericht heute anders entscheiden? Nur weil Mariano Rajoy heute nicht mehr Ministerpräsident ist? Das wird nicht passieren.
-Ist es eigentlich ein Problem für Sie, dass Ihnen mit Rajoy ein Feindbild weggebrochen ist?
Ist es eigentlich ein Problem für Sie, dass Ihnen mit Rajoy ein Feindbild weggebrochen ist? Überhaupt nicht. Klar, wenn man einem rechtskonservativen Führer wie Rajoy gegenübersteht, der in meinen Augen dem Erbe Francos sehr nahesteht, dann sind die Unterschiede gewaltig. Aber wir brauchen keine Feinde, Märtyrer, Helden oder Schlachten. Wir brauchen Dialog. Mit Herrn Sánchez können wir zumindest offen reden.
-Aber auch Sie bewegen sich ja kein Stück.
Das stimmt so nicht. Vor einem Jahr habe ich die Unabhängigkeitserklärung ausgesetzt, um dem Dialog mit Spanien eine Chance zu geben. Das war eine sehr schwierige Entscheidung für mich und die Mehrheit meiner Wähler konnten sie auch nicht nachvollziehen. Aber ich wollte meinen guten Willen zeigen. Am Ende war es ein Fehler, das getan zu haben. Eine Wiche später wurden die Jordis (die Unabhängigkeits-Aktivisten Jordi Sanchez und Jordi Cuixart) verhaftet und die Dinge entwickelten sich in eine schlechte Richtung.
„Unser Weg ist demokratisch und gewaltfrei“
-Vor kurzem demonstrierten wieder hunderttausende in Barcelona für die Unabhängigkeit. Beobachter warnen vor einem „heißen Herbst“. Könnte die Situation eskalieren wie vor einem Jahr?
Wenn das unsere Strategie wäre, wäre ich in Barcelona geblieben, um eine Konfrontation zu provozieren. Aber das ist nicht unser Weg. Unser Weg ist demokratisch und gewaltfrei. Es wäre schön, wenn Spaniens Führer das auch so sähen. Aber dieser Tage erleben wir, wie Politiker die Spanier dazu ermutigen, gelbe Schleifen abzuhängen...
-... ein Protestsymbol gegen die Inhaftierung katalanischer Politiker. Katalanen hängen große Schleifen auf, Spanier wieder ab. Eigentlich absurd.
Da werden Leute angestiftet, Schlechtes zu tun.
-Viele Deutsche respektieren Ihren Wunsch nach Selbstbestimmung, aber sie wollen auch Europa zusammenhalten. Schaden Sie nicht der EU?
Die eigentliche Bedrohung für die EU geht nicht von Katalonien aus, sondern von Staaten wie Polen oder Ungarn oder von Italiens Regierung, die wenig Sinn für europäische Werte hat. Die größte Bedrohung ist, gegenüber autoritären Ideologien zu nachgiebig zu sein. Das Recht auf Selbstbestimmung ist keine Gefahr.
-Aber eine noch kleinteiligere EU wird handlungsunfähig.
Warum verhandeln wir dann mit Ländern wie Mazedonien oder dem Kosovo über die Aufnahme in die EU? Die katalanische Krise ist eine Chance, zu zeigen, wie man Probleme mit Dialog löst.
-Hat es Sie auch so überrascht, dass Frankreichs Ex-Premier Manuel Valls Bürgermeister von Barcelona werden will?
Zunächst hat er das Recht, zu kandidieren. Das respektiere ich, obwohl Herr Valls von Barcelona nicht die leiseste Ahnung hat. Wenn ich mir einen französischen Politiker für dieses Amt aussuchen dürfte, wäre es ein anderer.
-Nämlich?
(schweigt und lächelt)
-Jassir Arafat träumte von einem Palästina mit der Hauptstadt Jerusalem – vergebens. Fürchten Sie, in einer ähnlichen Situation zu sein?
Natürlich nicht. Unser Fall ähnelt eher dem von Schottland oder Québec, weil wir einen gewaltfreien Weg wählen.
-Sind Sie der Unabhängigkeit heute näher als vor einem Jahr?
Absolut, ja. Die Spanier sehen Katalonien jetzt als politisches Subjekt, vor einem Jahr war das anders. Die Katalanen wissen, dass sich der spanische Staat nicht reformieren lässt. Unser Weg ist unumkehrbar.
Interview: Marcus Mäckler, Georg Anastasiadis
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