1. Startseite
  2. Politik

China ändert Vorgehensweise – Professor überzeugt: „Die alten Regeln gelten nicht mehr“

Erstellt:

Von: China.Table

Kommentare

Der Sinologie-Professor Klaus Mühlhahn, Präsident der Zeppelin Universität Friedrichshafen
Sinologie-Professor Klaus Mühlhahn, Präsident der Zeppelin Universität Friedrichshafen © Zeppelin Universität/Ilja Mess

Der Konflikt um den Autozulieferer Continental zeigt, wie streitlustig China inzwischen agiert. Der Sinologe Klaus Mühlhahn erklärt, warum sich an der gereizten Stimmung vorerst nichts ändern wird.

Friedrichshafen/Berlin – Klaus Mühlhahn ist Professor für Chinastudien an der Freien Universität Berlin und seit Juni 2020 für fünf Jahre Präsident der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Er hat einen Hintergrund in Sozial- und Geschichtswissenschaften. Im Jahr 2021 sind von ihm erschienen: „The Chinese Communist Party: A Century in Ten Lives“ und „Geschichte des modernen China: Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart“. Für 2022 plant er zusammen mit Julia Haes die Veröffentlichung des Buches „Hongkong: Umkämpfte Metropole von 1841 bis heute“.

Der Fall um China, Litauen und Continental bewegt derzeit die Gemüter. Erstmals greift China die Autoindustrie seines Partnerlandes Deutschland an. Was sagt uns das?

Tatsächlich deutet sich hier eine neue Vorgehensweise in der Handelspolitik an. China beginnt jetzt ebenfalls, die Lieferketten als politisches Instrument einzusetzen. Güter mit Vorprodukten aus Litauen sollen als solche gekennzeichnet werden, und dann dürften solche Produkte nicht mehr nach China* verkauft werden. Diese politische Instrumentalisierung der Lieferketten ist zuerst von Donald Trump im großen Maßstab eingesetzt worden. Neu ist aber nun, dass China diese Praxis aufgreift. China will sein wirtschaftliches Gewicht auch politisch nutzen.

Zugleich sieht es so aus, als nehme die Berechenbarkeit des Verhaltens auf allen Seiten ab.

Das ist ohnehin ein großes Risiko für die Zukunft und insbesondere für das Jahr 2022. Die Staaten und Institutionen sind lange Zeit ungeschriebenen und geschriebenen Regeln gefolgt, die das Miteinander in der Welt in den letzten drei Jahrzehnten beherrscht haben. China war hier sogar ein vergleichsweise verlässlicher Spieler. Diese Ära endet nun. Die Regeln gelten so nicht mehr. Dadurch schwindet die Berechenbarkeit. Niemand weiß jedoch, wie die neuen Spielregeln lauten werden. Daher steigt die Gefahr von unbeabsichtigten Nebenwirkungen sowohl für die Wirtschaft Chinas als auch für die Wirtschaft in der Welt.

Die Akteure verhalten sich zunehmend unvorhersehbar.

Das sieht man ja jetzt auch an den Ereignissen um Litauen*. China ist gereizter geworden. Zugleich ist das Land jetzt eher bereit, Risiken einzugehen. Litauen ist ein schönes Land – ich will es jetzt keinesfalls zurücksetzen – aber es ist eben auch ein sehr kleines Land. Chinas heftige Reaktion steht in keinem Verhältnis zum politischen Gewicht Litauens. Wenn China überhaupt nicht reagiert hätte, wäre der mögliche Schaden für alle Seiten minimal geblieben. China hat überraschend gereizt auf ein sekundäres Thema reagiert.

China agiert in geopolitischen Fragen zunehmend gereizt

Warum hat das große China die Aktionen des kleinen Litauen nicht souverän übersehen?

Früher hätte China vermutlich so reagiert. Es hätte den Vorgang offiziell als unwichtig dargestellt und hinter den Kulissen versucht, Litauen* zu isolieren. Heute geht man damit in die Öffentlichkeit und bewirkt genau das Gegenteil: Die Affäre wird zu einer europäischen und deutschen Angelegenheit.

Weshalb diese Eskalation?

In der Außenwirtschaftspolitik Chinas wird Xi Jinpings* Handschrift als Präsident immer deutlicher. Wir sehen überhaupt nur noch wenige andere Entscheidungsträger. Das war früher definitiv anders, es gab eine Vielzahl von Außenpolitikern, die gemeinsam die Politik geprägt haben. Ich glaube schon, dass der derzeitige Kurs sehr viel damit zu tun hat, dass Xi die Außenpolitik für sich als Schwerpunkt definiert hat. Hier will er punkten, indem er die Stärke und das Selbstbewusstsein Chinas zur Schau stellt.

Wobei die Frage bleibt, warum ein geschickter Stratege wie Xi eine so wenig subtile Außenpolitik betreibt.

Xi Jinping ist in der Tat ein sehr kluger Stratege. Er ist aber auch sehr ambitioniert. In der Außenpolitik sehen wir eine deutliche Abkehr von der Vergangenheit. Unter seinen Vorgängern herrschte Konsens, international vorsichtig zu agieren. Da gab es eigentlich nie ein deutliches Wort. Jetzt ist China im Vergleich dazu regelrecht streitlustig* geworden. Dahinter steckt auch eine Botschaft an die Massen. Xi präsentiert sein China als betont selbstbewusstes Land.

China: Xi Jinpings Außenpolitik auch innenpolitisch motiviert – Volksrepublik vor mehreren Krisen

Die Botschaft geht also nach innen?

Was von außen oft übersehen wird, sind die großen Herausforderungen, vor denen die Führung steht. Es herrscht da meiner Meinung nach eine Art Krisenbewusstsein. Im kommenden Jahr werden 1,2 Millionen Hochschulabsolventen den Arbeitsmarkt betreten, für die es eigentlich keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. Über das außenpolitische Gehabe lassen sich diese Verwerfungen im Innern übertünchen. Die Rhetorik von der nationalen Größe wird hier ganz gezielt eingesetzt.

Der Nationalismus wird zudem untrennbar mit einem Kult um die Person Xi vermischt. Installiert er sich als Alleinherrscher?

Wir sehen zumindest eine klare Konsolidierung in der Kommunistischen Partei*. Auf dem 6. Plenum wurden viele Weichen gestellt. Bei der Resolution zur Geschichte der Partei ging es ja weniger um die Geschichte als um die Zukunft. Aber noch weit wichtiger als der Inhalt ist überhaupt das Zustandekommen der Resolution. Nur die stärksten Führungspersönlichkeiten konnten so etwas durchzusetzen. Auch in China ist die Resolution Ergebnis eines langwierigen Diskussionsprozesses* voller Risiken. Das einheitliche Bild, das dabei entsteht, ist bemerkenswert. Aus China dringen fast keine anderen Stimmen nach außen.

Gibt es die anderen Stimmen nicht mehr? Sind die anderen Meinungen bereits verstummt oder hören wir sie bloß nicht?

Wir stehen vor etwas, das ich die „epistemische Herausforderung“ nennen würde. Also der Frage, was wir überhaupt von dem Land angesichts der Isolation noch wissen können und wie wir uns das Wissen verschaffen. Wir lesen aus China nur noch die offiziellen Verlautbarungen, egal, wo wir hinschauen. Darauf basiert dann unsere China-Analyse. Im Endeffekt machen wir alle Kaffeesatzleserei mit einer sehr begrenzten Zahl an Dokumenten. Stellen Sie sich mal vor, Sie würden als Hauptstadtjournalist die deutsche Politik nur auf Basis der Parteiprogramme und der offiziellen Presseerklärungen analysieren.

Das Ergebnis wäre in der Tat ziemlich dürftig.

Und doch machen wir gerade genau das in Bezug auf China. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir Kommentatoren sagen: Das ist eine Blackbox, und was darin stattfindet, wissen wir nicht wirklich. Wir können ja auch nicht mehr hinfahren.

China und Deutschland: Corona-Pandemie beendete persönlichen Austausch

Das Ende des persönlichen Austauschs war vielleicht eine der einschneidendsten Änderungen der vergangenen zwei Jahre. Können die Akteure im Umgang mit China überhaupt noch informierte Entscheidungen treffen?

Genaue Informationen sind für die Risikoabschätzung ganz wichtig. Und jetzt tun wir das im Grunde genommen auf Basis einer sehr begrenzten Datenlage. Wir stehen gemeinsam vor der Herausforderung, uns neue Zugänge und Informationsquellen zu erschließen.

Auch die neue Bundesregierung steht vor diesem Problem. Es gibt kaum Kanäle, über die sich im Vorfeld einer Entscheidung ausloten lässt, was mit China geht und was nicht.

Hier steigt die Gefahr, dass Maßnahmen nicht die erhoffte Wirkung erzielen. Das kann potenziell problematisch werden bei einer Bundesregierung, die in Bezug auf China sich noch keine klare Position erarbeitet hat*. Die verschiedenen Ministerien müssten jetzt zügig mit der Wirtschaft ins Gespräch kommen und daraus eine Strategie formen. Doch ich glaube, das wird noch Zeit brauchen. Die Gefahr ist nun, dass man sich in dieser Zeit auf deutscher Seite aufgrund von Unerfahrenheit vergaloppiert oder ins Fettnäpfchen tritt.

So steigt auch die Gefahr fataler Fehleinschätzungen.

Als Historiker erinnert mich die heutige Lage immer mehr an die Situation vor dem Ersten Weltkrieg. Wir haben dieselbe Unübersichtlichkeit, dieselbe Dominanz nationaler Interessen. Wir haben dieselbe Bereitschaft, Handel als Waffe zu nutzen, womit man Gemeinsamkeiten reduziert und Unterschiede herausstellt. Wir brauchen bei aller gegenseitiger Kritik einen Fokus auf Gemeinsamkeiten. Es ist richtig, dass Werte im Verhältnis zu China eine Rolle spielen sollen*. Aber man braucht auch eine realistische Abwägung aller Ziele. Am Ende sind Pragmatismus gefragt und eine Orientierung an realen Erfolgen statt an Rhetorik.

Was können wir tun, um wieder mehr Gesprächskanäle zu öffnen?

Auf jeden Fall wird es dringend nötig sein, wieder ins Gespräch zu kommen und bisher ungenutzte Kontakte zu aktivieren. Hier lassen sich beispielsweise auch Vertreter der chinesischen Wirtschaft oder Wissenschaft ansprechen. Diesen Dialog sollten wir viel öfter führen, und das tun wir eigentlich überhaupt nicht mehr. Wir befinden uns wie gesagt in einer Krise der Informationsbeschaffung. Wir müssen viel mehr darüber in Erfahrung bringen, was auf der chinesischen Seite los ist.

China in 2022: Wegweisender Parteitag der KP im Herbst

Was können wir denn über die Vorgänge in der Partei wissen? 2022 bringt uns beispielsweise einen der Parteitage, die nur alle fünf Jahre stattfinden.

Das wird der wichtigste Parteitag in einer sehr langen Zeit. Ein großer Teil des Führungspersonals auch unterhalb des Politbüros wird wahrscheinlich ausgetauscht werden. So etwas hat es zuletzt in den 80er-Jahren gegeben. Die Reformpolitik-Generation tritt ab. Hinterher werden wir eine noch größere Kontrolle durch Xi Jinping sehen. Und natürlich die offizielle Entfristung seiner Amtszeit*. Dadurch rückt er noch mehr in den Vordergrund. Die Vielfalt in der Partei wird immer weniger sichtbar.

Wir sehen das Ende des politischen Systems von Deng Xiaoping, das kollektive Herrschaft mit Elementen gegenseitiger Überwachung vorgesehen hat. Die Partei macht diesen Rückbau weiterhin mit?

Sie macht das mit, aber es steigen auch die Risiken für Xi Jinping. Denn was für ihn gut ist, ist nicht notwendigerweise für die Partei gut. Die kollektive Führung und Konsensorientierung war das Geheimnis des Erfolgs der Partei. Die Begrenzung der Amtszeiten war hier ein wichtiges Element. Dieses lange Austarieren und Suchen nach Gemeinsamkeit hinter geschlossenen Türen, das die Politik in China früher bestimmt hat, das ist mehr oder weniger weg. Damit stellt sich die Frage: Kann die Partei in der Zukunft da noch erfolgreich sein? Oder degeneriert dieses System in ein persönliches Regiment mit allen Risiken.

Was China schadet, schadet heutzutage aber auch Deutschland.

Während der Ton aggressiver wird, steigt andererseits die Vernetzung der Welt immer mehr an. Die jungen Menschen in China sind auch weiterhin sehr stark an der Welt interessiert, am Reisen, am Austausch, an westlicher Musik, an Filmen. Es kann dem System schwer schaden, wenn der Zugang zur Welt begrenzt wird. Auch wenn nur wenig nach außen dringt, ist ziemlich klar, dass da nicht alle begeistert sind.

Das Interview führte Finn Mayer-Kuckuk.

Seit Mai 2021 ist Finn Mayer-Kuckuk Redaktionsleiter des China.Table. Zuvor war er Hauptstadtkorrespondent in der Bundespressekonferenz in Berlin und China-Korrespondent unter anderem für das Handelsblatt und die DuMont-Gruppe. Er berichtet unter anderem über das Zusammenspiel der chinesischen mit der deutschen Wirtschaft, Digitalisierung und IT sowie über China-Trends in der deutschen Hauptstadt.

Dieser Artikel erschien am 21. Dezember im Newsletter China.Table Professional Briefing – im Zuge einer Kooperation steht er nun auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

Das Logo des Newsletters China.Table
China.Table Logo © China.Table Professional Briefing

Auch interessant

Kommentare