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Chinas Corona-Chaos: Das Virus ist außer Kontrolle – und Staatschef Xi Jinping schweigt

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Von: Sven Hauberg

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Noch im November verkaufte Xi Jinping seinen Corona-Kurs als alternativlos – jetzt die Kehrtwende. Erklärt hat sich Chinas Parteichef bislang nicht. Das müssen andere für ihn erledigen.

München/Peking – Man stelle sich vor, Deutschland wird von einer neuen Corona-Welle erfasst, in nur zwei, drei Tagen werden Hunderttausende krank – und die Tagesthemen erwähnen mit keinem Wort die langen Schlangen vor den Krankenhäusern, die Medikamentenknappheit oder die nackte Panik, die viele ergriffen hat. Klingt absurd? Nicht in China: Seit dem Ende der Null-Covid-Politik liegt gefühlt das halbe Land flach. In den Hauptnachrichten aber ist am Donnerstag die Eröffnung des chinesisch-lateinamerikanischen Unternehmergipfels in Ecuador das wichtigste Thema. Gegen Ende der Sendung wird dann behauptet, es seien zuletzt nur 2000 neue Corona-Fälle gemeldet worden, alles halb so schlimm also.

Mitte vergangener Woche hatte China völlig überraschend seine Corona-Politik massiv gelockert. Nach drei Jahren Lockdowns, Zwangsquarantäne und Massentests war die Null-Covid-Strategie plötzlich Geschichte. Seitdem gibt es kaum noch Einschränkungen, und das Virus kann sich ungehindert ausbreiten – in einem Land, in dem sich keine Herdenimmunität entwickeln konnte und das es versäumt hat, die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen ausreichend zu impfen. Wie viele Menschen sich in den vergangenen Tagen infiziert haben, ist nicht bekannt  – zumal Chinas Nationale Gesundheitskommission kürzlich dazu übergegangen ist, nur noch Menschen mit Symptomen in ihre Statistiken aufzunehmen. Todesfälle gibt es angeblich keine.

Chinas Corona-Politik ist „absolut richtig“, schreibt die Staatspresse

Wie düster die Lage wirklich ist, zeigt sich in unzähligen Berichten und Videos, die in den sozialen Medien geteilt werden. Da berichtet ein Bestatter in Pekings Stadtbezirk Chaoyang, er wisse gar nicht mehr, wo er all die Corona-Toten lagern solle, weil er mit dem Verbrennen nicht mehr hinterherkomme. Andere erzählen, wie sie stundenlang vor völlig überfüllten Krankenhäusern anstehen mussten – oder verzweifelt versuchen, an Fiebermedikamente und Selbsttests zu kommen.

Und Chinas Staats- und Parteichef? Vor wenigen Wochen erst hatte Xi Jinping auf dem Parteikongress von Chinas Kommunisten seine knallharte Corona-Politik verteidigt und behauptet, vorderstes Ziel sei es, Menschenleben zu schützen. Noch im November hatten Staatsmedien Xi mit den Worten zitiert, China werde mit seiner Null-Covid-Politik „unbeirrt“ fortfahren, um den „Kampf“ gegen die Pandemie „entschlossen zu gewinnen“. Jetzt aber, da es offenbar zu massenhaft Todesfällen kommt, schweigt Xi Jinping. Pikant: Just an dem Tag, als China die Corona-Lockerungen verkündete, flog Xi zum Staatsbesuch nach Saudi-Arabien.

Mann mit Gasmaske
Offenbar aus Angst vor einer Infektion wagte sich dieser Mann in Peking nur mit Gasmaske aus dem Haus. © Andy Wong/dpa

Statt sich selbst an sein Volk zu wenden, schickt er andere vor, um den Kurswechsel zu rechtfertigen. Etwa die Vize-Ministerpräsidentin Sun Chunlan, die zuerst Lockerungen verkündete und später erklärte, dass die Zahl der Corona-Infektionen in Peking „rasant steigt“. Oder Zhong Nanshan, den renommiertesten Epidemiologen des Landes, der sagte, man solle Covid-19 ab sofort einfach als „Corona-Erkältung“ bezeichnen, weil das Virus kaum gefährlicher sei als eine Grippe. Gleichzeitig verteidigte das Parteiblatt, die Volkszeitung, am Donnerstag in einem ganzseitigen Kommentar Xis Corona-Politik als „absolut richtig“.

China und Corona: Erst drei Jahre Angst – jetzt die plötzliche Öffnung

Die Chinesen wissen derweil nicht mehr, was sie glauben sollen. Schließlich hatte man ihnen drei Jahre lang eingeredet, dass die einzige Alternative zur Null-Covid-Politik ein Massensterben wie im Rest der Welt sei. Geradezu genüsslich hatten die chinesischen Staatsmedien monatelang jeden Tag aufs Neue Horrorzahlen etwa aus den USA vermeldet, wo gut eine Million Menschen an Covid starben. Und heute? Hat der Corona-Horror China selbst erreicht.

Die große Frage ist, warum China ausgerechnet jetzt eine Kehrtwende in der Corona-Politik hinlegt. Waren es die Proteste Ende November, die zu einem Umdenken geführt haben? In Dutzenden Städten waren Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen den Lockdown-Wahnsinn zu demonstrieren. Aber warum dann diese plötzliche, völlig übereilte Öffnung? Schließlich hätte Xi auch einen schrittweisen Plan präsentieren können, der Lockerungen in den nächsten Monaten in Aussicht stellt. Auch das hätte die wütenden Bürger wohl besänftigt und der Regierung Zeit gegeben, das Gesundheitssystem auf den erwarteten Andrang von Kranken vorzubereiten – und mit einer neuen Kampagne die Impfquote unter den besonders Verletzlichen zu erhöhen. Nur rund 40 Prozent der über 80-jährigen Chinesen haben bislang eine dritte Impfung erhalten, die notwendig ist, damit Chinas selbst produzierte Vakzine den vollen Schutz bieten. Von heute auf morgen lässt sich das kaum ändern.

Chinas Top-Epidemiologe Zhong Nanshan erklärt den jüngsten Kurswechsel mit der hochansteckenden Omikron-Variante: „Unter solchen Umständen ist es schwierig, die Übertragungsketten komplett zu unterbrechen – egal wie stark die Vorbeugung und Kontrolle sind.“ Dass Omikron bereits Anfang des Jahres in China angekommen war, verschweigt man lieber.

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China drohen Hunderttausende Corona-Tote

Laut Weltgesundheitsorganisation WHO war die Zahl der Corona-Fälle bereits vor den Lockerungen massiv gestiegen. Falls das stimmt, bleibt die Frage, warum Chinas Krankenhäuser erst seit wenigen Tagen von Corona-Kranken gestürmt werden. Vielleicht ja, weil die Menschen aus Angst vor einer Zwangsquarantäne bislang lieber zu Hause blieben, wenn sie sich infiziert hatten.

Auf viele Chinesen wirkt Xi Jinpings Corona-Politik jedenfalls vollkommen unverständlich, der Unmut in den streng kontrollierten sozialen Medien nimmt zu. Trey McArver von der auf China spezialisierten Beratungsfirma Trivium spricht vom „gefährlichsten Moment in der chinesischen Politik seit Jahrzehnten“ und einer „gefährlichen Zeit für Xi Jinping“. Bei einer Online-Veranstaltung Mitte der Woche sagt McArver, „zum ersten Mal, seit Xi im Amt ist“, sei nicht klar, „welches Standing“ er in der Kommunistischen Partei noch habe. Er glaube aber nicht, dass Xis Herrschaft ernsthaft in Gefahr sei. Schließlich hätten Chinas oberste Anführer schon weitaus dramatischere Krisen überstanden, etwa den „Großen Sprung nach Vorne“, als Ende der 1950-er Jahre eine missglückte Wirtschaftsreform von Staatsgründer Mao Zedong zu bis zu 50 Millionen Hungertoten führte.

Unklar ist, ob Xi Jinping die Corona-Kehrtwende im Alleingang entschieden hat. Wenn ja, dann spräche das für eine fast grenzenlose Machtfülle von Chinas Staats- und Parteichef. Es wäre eine beängstigende Vorstellung, wenn ein Mann alleine, vielleicht aus einer Laune heraus, derart folgenschwere – und ganz offensichtlich erratische – Entscheidungen treffen kann. Zentral ist, wie sich die Lage in den kommenden Wochen entwickelt. Mehreren Studien zufolge könnten schon bald Hunderttausende Menschen sterben – eine derartige Tragödie könnte selbst Chinas massiver Zensurapparat nicht mehr verheimlichen. Ein Zurück zur Null-Covid-Politik dürfte allerdings ausgeschlossen sein. „Der Geist ist aus der Flasche“, sagte Trivium-Analyst McArver.

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