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Totale Überwachung? Chinas Sozialkreditsystem hat eine eklatante Schwäche

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Von: Foreign Policy

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Das vermeintlich orwellsche System ist fragmentiert, lokalisiert und meist auf Unternehmen ausgerichtet.

Chinas hartes Durchgreifen gegen Big Tech hat Pekings „digitalen Autoritarismus“ ganz oben auf die globale Agenda gesetzt. Der ständig wachsende Überwachungsapparat, die drakonischen Beschränkungen bei Online-Spielen für Minderjährige* und die Forderung nach einem Verbot von „unmännlichen Inhalten“ geben Anlass zur Sorge. Der Verordnungsentwurf zu algorithmischen Empfehlungsdiensten ist jedoch in vielerlei Hinsicht für die Europäische Union und andere Regionen exemplarisch. Doch überzeichnen die Schlagzeilen, die sich auf Chinas orwellsche Kontrollen konzentrieren, eine viel banalere Realität – jedenfalls meistens.

Chinas Sozialkreditsystem (SCS) ist hierfür das beste Beispiel. Seit Jahren macht das System weltweit Schlagzeilen als Symbol für Chinas rücksichtslosen Techno-Autoritarismus – und in der Tat wurden schätzungsweise 10 Millionen Bürger und Unternehmen auf eine schwarze Liste gesetzt. Dabei wird jedoch übersehen, dass das System nie als algorithmengesteuertes Super-Scoring-System konzipiert war. Es gab lokale Bewertungssysteme, die häufig mit dem SCS verwechselt wurden. Doch handelte es sich dabei um wackelige Aktionen am Rande des Systems, die heute in ihren Möglichkeiten eingeschränkt sind.

Chinas Sozialkreditsystem ist eigentlich ziemlich langweilig

Das Hauptziel des SCS besteht darin, die Durchsetzung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu verbessern. Lebensmittelskandale sind in China* ein immer wiederkehrendes Problem, ebenso wie Fragen der Sicherheit am Arbeitsplatz, Lohnrückstände und die Nichteinhaltung von Verträgen und Gerichtsbeschlüssen. Zwar gab es Gesetze, um diese Probleme anzugehen, doch war die Durchsetzung mangelhaft, und wer erwischt wurde, konnte einfach in die nächste Provinz gehen und erneut straffällig werden. Das SCS sollte helfen, indem es den Datenaustausch zwischen den Behörden ermöglichte und landesweite schwarze Listen einführte, um Straftäter zu zwingen, die Vorschriften einzuhalten. Die Überwachung und Unterdrückung von politisch Andersdenkenden oder Minderheiten wurde anderen, stärker in die Privatsphäre eingreifenden Initiativen überlassen, wie etwa den Projekten Golden Shield und Sharp Eyes.

China, Rongcheng: Vor dem Bürgeramt von Rongcheng sind auf großen Postern die Porträts von «Modellbürgern» ausgestellt.
Pilotstadt fürs Sozialkreditsystem: Vor dem Bürgeramt der Stadt Rongcheng sind auf großen Postern die Porträts von «Modellbürgern» ausgestellt. © Andreas Landwehr/dpa

Nichtsdestotrotz hatte das System auch digitale Ambitionen. In den Jahren 2018 und 2019 benannten die zentralen Behörden 28 Modellstädte, die dem Rest des Landes die Zukunft des SCS aufzeigen sollen. Viele dieser Kommunen, darunter auch Alibabas* Heimatstadt Hangzhou propagierten Technologien wie künstliche Intelligenz und waren erpicht, sich mit Big Tech zusammenzuschließen, um der Regierung neue Möglichkeiten an die Hand zu geben. Die Daten aus diesen Städten zeigen jedoch, dass das SCS ihnen keine technologischen Superkräfte verliehen hat. Stattdessen kämpft Chinas enorme Bürokratie immer noch mit den bekannten und tief verwurzelten Herausforderungen, um die hochgesteckten Ambitionen des SCS zu verwirklichen.

Chinas Sozialkreditsystem hat Unternehmen im Blick – Einzelpersonen nur selten

Entgegen der landläufigen Meinung haben die Städte hauptsächlich Unternehmen und nicht Einzelpersonen im Visier. Allerdings werden auch die gesetzlichen Vertreter eines zuwiderhandelnden Unternehmens in die schwarzen Listen aufgenommen, um eine erneute Straftat an anderer Stelle oder unter anderer Firmierung zu verhindern. Landesweit landen etwa 75 Prozent der Unternehmen, die vom System erfasst werden, auf schwarzen Listen, weil sie Gerichtsbeschlüsse ignoriert haben – als sogenannte „Urteilsverweigerer“. Die übrigen Unternehmen landen dort in der Regel wegen schwerwiegender Marktverstöße, wie etwa Verstöße gegen die Lebensmittelsicherheit, Umweltschäden oder Lohnrückständen.

Die alltägliche Nutzung des SCS durch diese Städte ist jedoch aufgrund der Fragmentierung des Systems und der Inflation der Ergebnisse weitgehend banal. Diese Fragmentierung ist ein Symptom dafür, dass die zentralen Behörden bei den Zielen und der Art und Weise, wie sie erreicht werden sollen, nicht klar sind. Dies gibt den lokalen Behörden Spielraum, um ihre Politik auf kreative oder eigennützige Weise umzusetzen, was zu zahlreichen skurrilen Experimenten führt.

Während der ersten COVID-19*-Welle in China wurde in der Stadt Anqing in aller Ausführlichkeit eine schwarze Liste geführt, wie unsere Recherchen ergaben. An einem Kontrollpunkt weigerte sich „der Täter“, den Rat der diensthabenden Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas* zu befolgen, schnitt mit einer Zange einen Zaun durch, der die Straße versperrte, und warf ihn zur Seite. Dies führte dazu, dass „der Fahnenmast der [KP] am Zaun über die Straße gebogen wurde“ und „der Täter dann über den Fahnenmast [fuhr], wodurch dieser beschädigt wurde. Die beschädigten Gegenstände hatten einen Wert von 20 Yuan.“

China: Skurrile Beispiele – Nachbarn in Rongcheng sollen einander ausspionieren

Und es gibt noch viele weitere Beispiele. Die chinesische Stadt Putian nutzt das SCS, um berühmte Marken bekannt zu machen und zu honorieren (ohne eindeutigen Bezug zu ihrer „Bonität“) und veröffentlicht eine besondere „Whitelist“ für Sozialpunkte. Das Umweltamt von Ningbo setzt Unternehmen auf die schwarze Liste, die „in den Medien kritisiert wurden und ihr Verhalten nicht korrigiert haben.“ Die Stadt Wuhan hat nach eigenen Angaben 240.000 Bürgerinnen und Bürgern SCS-Prämien verliehen. Rongcheng gewinnt den Preis für das Experiment, das für das meiste Stirnrunzeln sorgt: Freiwillige spionieren Nachbarn aus, die Punkte verlieren, wenn sie den Schnee nicht von ihren Vordächern räumen, wenn sie sich mit anderen Nachbarn streiten und so weiter. (Die Zentralregierung hat inzwischen erklärt, dass das Scoring nicht zur Bestrafung von Bürgern eingesetzt werden sollte.)

Die Aufblähung von Daten und die damit einhergehende Propaganda sollen das System derweil effektiver erscheinen lassen, als es tatsächlich ist. Die chinesischen Behörden rühmen regelmäßig ihren Erfolg bei der Umsetzung des SCS. So gaben die 28 Städte an, bis Mitte 2020 insgesamt 10 Milliarden Daten gesammelt zu haben, d. h. mehr als 70 Datenpunkte pro Kopf. Nach Angaben von Anqing speisen fast 400 Behörden Daten in das System ein. Der Oberste Volksgerichtshof schätzt, dass das SCS dazu beigetragen hat, 17,08 Mrd. Yuan (umgerechnet 2,66 Mrd. USD) an Geldern von säumigen Schuldnern einzutreiben.

Fragmentierung und Inflation mögen unschuldig erscheinen, haben aber weitreichende Folgen. Der Interpretationsspielraum bedeutet, dass lokale Kader das System missbrauchen können.

 Vincent Brussee

Die Kommunalverwaltungen haben viele Anreize, die Daten aufzublähen, weshalb der Wert ihrer Zahlen fragwürdig ist. Auffällige Zahlen werfen ein positives Licht auf die Verantwortlichen und können die nächste Beförderung einleiten. Es gibt jedoch keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen den gesammelten Daten und der Umsetzung des SCS. Je mehr Daten eine Stadt sammelt, desto weniger scheint sie auf die schwarze Liste zu setzen. In Anqing ist eine Abteilung für 90 Prozent der Daten-Uploads zuständig. Viele Abteilungen in Hefei laden nicht mehr als hundert Daten pro Woche hoch – alles andere also als „Big Data“. Ein chinesischer Wissenschaftler hat nahegelegt, dass einige dieser Initiativen mitunter mehr Arbeit verursachen, als sie es wert sind.

Größte Schwäche an Chinas Sozialkreditsystem ist mangelnde Digitalisierung und Standardisierung

Ironischerweise liegt die größte Schwäche des SCS in der mangelnden Digitalisierung und Standardisierung und nicht daran, dass das System übersättigt ist. Fragmentierung und Inflation mögen unschuldig erscheinen, haben aber weitreichende Folgen. Der Interpretationsspielraum bedeutet, dass lokale Kader das System missbrauchen können. Eine Stadt setzte einen Bürger auf die schwarze Liste, weil er in Online-Kommentaren angeblich eine Panik über einen lokalen COVID-19*-Ausbruch ausgelöst hatte. In einem Landkreis in der Inneren Mongolei wurde Eltern mit dem Eintrag auf einer schwarzen Liste gedroht, weil sie gegen die Durchsetzung von Lehrplänen in Mandarin an den örtlichen Schulen protestierten. Und es gibt immer noch wenig, was lokale Amtsträger daran hindert, Verstöße von Staatsbetrieben zu ignorieren.

Letztlich belasten diese Herausforderungen das SCM, darunter viele, die das System ursprünglich angehen wollte. Anstatt die chinesische Bürokratie zu einem umfassenden System zu vereinheitlichen, ist sie nach wie vor in Tausende von lokalen Dateninseln aufgesplittet. Anstatt die Durchsetzung der Marktvorschriften zu vereinheitlichen, können viele Regierungsvertreter weiterhin tun, was sie wollen. Peking ist sich dieser Probleme bewusst und hat seit 2019 Richtlinien erlassen, um sie zu lösen. Doch wird die Lösung dieser Probleme seine Zeit dauern. Diese nüchternen Wahrheiten über das SCS legen nahe, dass die Welt ihre Bemühungen verstärken sollte, über Chinas Tech-Schlagzeilen hinauszuschauen und zu beurteilen, ob die Ambitionen wirklich der Realität entsprechen.

Von Vincent Brussee

Vincent Brussee ist Analyst am Mercator Institute for China Studies und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Sozialkreditsystem und der Regulierung der digitalen Medien.

Dieser Artikel war zuerst am 15. November 2021 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung. *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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Berlin sollte bezüglich China die Taktik einer anderen Wirtschaftsmacht übernehmen, die sich in einer ähnlichen Lage befindet.

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