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Corona-Kritik an Merkel: Vergessenes Impf-Desaster? Vier Bundestagsfraktionen warnen - „Moralisches Versagen“

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Von: Florian Naumann

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Kanzlerin Angela Merkel kommt mit FFP2-Maske zu einer Kabinettssitzung.im Kanzleramt.
Kanzlerin Angela Merkel steht in der Corona-Krise in der Kritik - auch was das Vorgehen auf internationalem Parkett angeht. © Stefan Boness/Ipon/www.imago-images.de

Deutschland hadert mit den Corona-Impfungen. Doch die Impf-Politik riskiert aktuell weitere große Gefahren. Vier Bundestags-Fraktionen üben bei Merkur.de teils herbe Kritik.

Berlin/München – Die Corona-Pandemie stellt die Politik immer wieder vor Probleme. Oft geht es um ganz praktische Probleme im eigenen Land – aber bisweilen auch um Dilemmata von globalem Ausmaß: Denn während in Deutschland und weiten Teilen der EU der Impf-Prozess wenigstens anläuft, stehen andere Teile der Welt noch viel schlechter da. Bislang wurden nach UN-Angaben 75 Prozent des Impfstoffes in nur zehn Ländern verabreicht. In 130 Staaten habe die Impfung noch nicht einmal begonnen.

Solche globalen Ungleichheiten sind kein neues Phänomen. In der Pandemie bekommen sie aber besondere Brisanz. Denn großer Egoismus könnte auch die reichen Länder teuer zu stehen kommen. „Wir müssen uns im Klaren sein, dass die Pandemie erst dann besiegt ist, wenn sie überall unter Kontrolle gebracht wurde“, sagt etwa Andrew Ullmann Merkur.de* und warnt vor einem womöglich unkontrollierbaren Mutationsgeschehen. Der Infektiologie-Professor ist gewissermaßen das FDP-Pendant zum omnipräsenten SPD-Experten Karl Lauterbach.

Doch was ist zu tun? Reichen die von Bundesregierung und EU versprochenen Finanzmittel, um das Problem zu lösen? Sollte Europa Impfdosen aus eigenen Kontingenten spenden – und wenn ja, wie schnell? Merkur.de* hat sich in einer Umfrage nach den Positionen der Bundestags-Parteien erkundigt. Einig sind sich Linke, FDP* und Grüne mit der Regierungspartei SPD, dass wohl weitere Schritte nötig sind. Doch bei der Frage nach dem Wie gibt es größere Unterschiede. Das Thema ist auch angesichts des schleppenden Impf-Fortschritts in Deutschland ein Politikum: Union und AfD äußerten sich zu dem brisanten Thema auf Anfrage gar nicht erst.

Corona-Impfungen: Warnungen an Merkels Regierung - „Humanitäre Katastrophe“ und Mutations-Desaster drohen

Dass es ein Problem gibt, scheint aber unstrittig. Das hatte Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus in einer flammenden Bundestags-Rede betont. Und so sehen es auch die meisten Fraktions-Experten. Im Blickpunkt steht dabei die globale Impf-Initiative „COVAX“. „Während wir anstreben, bis Sommer schon rund 70 Prozent unserer Bevölkerung in Deutschland geimpft zu haben, gehen optimistische Prognosen für COVAX bis Juni dieses Jahres von 3,3 Prozent der Bevölkerung in den ärmeren Ländern aus“, erklärt SPD-Politikerin Heike Baehrens Merkur.de. Menschen dort womöglich „bis 2024“ auf eine Impfung warten zu lassen wäre aber „unverantwortlich“, warnt sie.

Bei der globalen Verteilung der Impfstoffe laufe etwas „grundlegend falsch“, rügt auch Grünen-Politiker Ottmar von Holtz, Sprecher für zivile Krisenprävention seiner Fraktion. Auch Deutschland habe mit seinen bilateralen Impfstoff-Bestellungen COVAX geschwächt - und sei dabei als Land, in dem Impfstoff erforscht und hergestellt werde, besonders in der Verantwortung. Vor einer „humanitären Katastrophe in vielen ärmeren Ländern“ warnt indes der Gesundheits-Sprecher der Linke-Fraktion, Achim Kessler. Und der Mediziner Ullmann attestierte nicht nur ein „moralisches Versagen“, sondern eben klare Gefahren auch für Deutschland. Weitere Mutationen* seien bei hoher globaler Verbreitung „unausweichlich“, erklärter er- diese könnten „die Wirksamkeit unserer zur Verfügung stehender Instrumente schneller aushöhlen, als sie angepasst werden können“.

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Die Dringlichkeit scheint also hoch. Doch bei den Details der Umsetzung gehen die Meinungen hier und da auseinander. „Jetzt hilft nur noch, dass wir Impfstoffdosen an die COVAX-Initiative abgeben und alles dafür tun, Produktionskapazitäten für Impfstoffe weltweit zu erhöhen“, betont von Holtz auf Anfrage von Merkur.de*. In allen Ländern Impfungen zu ermöglichen sei überdies ein „menschliches Gebot“. Auch die GroKo-Politikerin Baehrens mahnt zur Eile: Impfstoffdosen aus EU-Kontingenten sollten nun „rasch“ COVAX zur Verfügung gestellt werden, zugesagt sei das bereits. Allerdings haben bisher offenbar nur Frankreich und Portugal konkrete Zahlen genannt. Beide Länder wollen fünf Prozent ihrer Dosen abgeben. Aus Deutschland ist dergleichen trotz klarer Ansagen von Kanzlerin Angela Merkel bislang nicht bekannt.

FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann im Bundestag.
FDP-Gesundheitsexperte Andrew Ullmann im Bundestag. © Christian Spicker/www.imago-images.de

Auf Bemühungen der EU setzt auch Ullmann. Er will „überschüssige Impfstoffdosen“ über die Europäische Union Ländern „auf dem Balkan, im Nahen Osten und in Afrika“ zugänglich machen. Wo „Überschuss“ beginnt, könnte allerdings die nächste offene Frage werden, am Wochenende meldeten sich Ministerpräsidenten mit einem neuen Impf-Vorstoß zu Wort. Der FDP-Politiker warnt allerdings auch vor einem neuen Problem - er sieht einen weiteren Verhandlungsfehler der EU. Einige Verträge verlangten die Zustimmung der Hersteller zur Weitergabe von Impfstoffen, berichtet er: „Das hätte ich so nicht verhandelt.“ Der Liberale glaubt allerdings an Kooperationsbereitschaft „zumindest der europäischen Unternehmen“.

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Doch auch die steht in einem anderen Kontext längst in Frage: Ein weiterer umstrittener Punkt ist die Freigabe von Wissen, Lizenzen und Patenten, um die geforderte Impfstoffproduktion in ärmeren Ländern zu ermöglichen - und den Impfstoff billiger zu machen. Linke, Grüne und bemerkenswerter Weise demnächst womöglich auch die Regierungspartei SPD* halten das für notwendig. Oder zumindest für eine Option.

Das Teilen von Wissen, etwa über den „Covid-19 Technology Access Pool“ (C-TAP) der WHO, habe bislang nicht gut funktioniert, erklärte Baehrens, SPD-Berichterstatterin für das Thema globale Gesundheit - ihrer Ansicht nach, weil es „für die Hersteller zu wenig Anreize gibt, ihr Knowhow breit zu teilen“. Gleiches gelte für freiwillige Lizenzierungen zwischen Unternehmen. „Die EU-Kommission setzt bislang noch auf Freiwilligkeit. Aber die Zeit drängt“, betonte sie. „Sollten Hersteller den freiwilligen Lizenzierungsmechanismus nicht zeitnah nutzen, darf auch die zeitlich befristete Weitergabe von Patenten und Produktionswissen kein Tabu sein.“

Der Grüne von Holtz sieht in dieser Frage auch Versäumnisse der Bundesregierung von Kanzlerin Merkel. Sie hätte die Impfstoff-Hersteller bei den Vertragsschlüssen zum Teilen der Technologien drängen müssen, rügt er: „Es reicht nicht, sich auf den guten Willen der Hersteller zu verlassen. Besonders angesichts öffentlicher Fördergelder, die in die Impfstoffforschung geflossen ist, hätte die Bundesregierung diese Mitsprache einfordern müssen.“

Und auch Kessler sieht die GroKo als Bremserin bei der Lösung des globalen Impf-Problems. Merkels Regierung blockiere zusammen mit EU und USA die Forderung der WHO und 100 Staaten, den Patentschutz während der Pandemie aufzuheben - und leiste sich so auch international ein „Versagen“ bei der Pandemiebekämpfung. Kessler hält unterdessen die Freigabe von Lizenzen für den richtigen Schritt und nicht die Spende von Impfstoffen. Die Impfmisere im globalen Süden werde sich auch nicht beheben lassen „wenn Impfstoffe gespendet werden, anstatt Geld“, warnt er. „Denn es sind ja nicht nur die zu hohen Preise, die den Zugang verhindern, sondern auch die fehlenden Produktionskapazitäten.“  

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Eine Forderung nach Lizenzweitergabe unter Zwang äußert Ullmann zwar nicht. Aber auch er sieht gravierende Versäumnisse beim Aufbau der Impfstoff-Herstellung in aller Welt. Er warnt bereits vor ähnlichen, weiteren Problemen. Die EU müsse ärmeren Ländern nun bei Test-Strategien, dem Schutz des medizinischen Personals und bei der Sauerstoff-Produktion helfen, fordert er. Den Staaten müsse beispielsweise „beim Aufbau von medizinischen Sauerstoff-Kapazitäten“ Unterstützung zukommen: „Wir dürfen jetzt nicht den gleichen Fehler machen wie bei der Impfstoffherstellung.“

Überhaupt sieht Ullmann bei der internationalen Corona-Politik der Regierung Merkel zu wenig Tempo. „Mit Blick auf das Mutationsgeschehen reagiert sie viel zu zögerlich“, rügt der Mediziner. Es brauche angepasste globale Bekämpfungsstrategien, Studien zur Optimierung des Einsatzes bestehender Impfstoffe und Förderung ergänzender Impfstoffe. Und die Zulassung der Impfstoffe in den einzelnen Ländern koste wegen jeweils individueller Kriterien derzeit noch zu viel Zeit.

Kritisch sehen übrigens alle vier Fraktionen auch, dass China per Impfdiplomatie seinen Einfluss in der Welt und auch in Europa ausweitet*, während Europa zaudert. Besonders pointiert drückte Kessler seine Einwände aus. Zwar dürfe Zugang zu Impfstoffen nicht als Druckmittel missbraucht werden. Aber: „Selbstverständlich schadet es dem internationalen Ansehen der wohlhabenden Bundesrepublik Deutschland, wenn andere Länder Impfstoffe verteilen, während die deutsche Regierung den Interessen der deutschen Pharmaindustrie den Vorrang gibt.“

Auch Ullmann fordert mehr Gespür die geopolitische Bedeutung des Themas*. Grundsätzliche Einwände gegen die Verwendung der heiß debattierten Impfstoffe aus China und Russland hat der Infektiologe allerdings nicht - wenn die Studien zu den Vakzinen „unter den gleichen international üblichen qualitativen Bedingungen durchgeführt und valide publiziert werden“. Ähnlich äußerte sich Baehrens: „Aktuell ist jede Impfung, die erfolgen kann, besser als keine Impfung.“  *Merkur.de ist Teil des Ippen-Digital-Netzwerks.

Florian Naumann

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