„Manches fast absurd“: Ex-Verfassungsrichter attackiert Merkels Corona-Politik

In der Corona-Pandemie beschloss die Bundesregierung viele Grundrechtseinschränkungen. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts fordert nun eine Aufarbeitung der Maßnahmen.
Karlsruhe - Keine Partys, keine privaten Veranstaltungen, dafür aber Ausgangssperren: In der Corona-Pandemie mussten die Deutschen viele Einschränkungen hinnehmen. Diese lösten eine Klagewelle bei deutschen Gerichten aus - auch beim Bundesverfassungsgericht. Eine erste Grundsatzentscheidung zur sogenannten Corona-Notbremse des Bundes stellten die Karlsruher Richterinnen und Richter für spätestens November in Aussicht. Der frühere Präsident des
Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, mahnte eine Aufarbeitung der Corona-Pandemie an.
Papier: Vertrauen in den Staat durch Corona-Pandemie erschüttert
„Bei aller Hoffnung, dass die Zeit der wesentlichen Freiheitseinschränkungen zu Ende geht, ist diese Aufarbeitung dringend geboten: politisch und durch die Gerichte, die bislang ja fast nur vorläufige Eil-, aber keine endgültigen Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen getroffen haben“, sagte Papier der Welt vom Dienstag (5. Oktober).
Für Papier begann die Erosion der Freiheitsrechte allerdings nicht erst mit der Corona-Krise. Die Krise habe sie lediglich beschleunigt. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und die Rationalität seiner Entscheidungen sei dadurch „im Laufe der Zeit erschüttert worden“. „Es wurde nicht generell, aber doch teilweise ziemlich irrational, widersprüchlich, kopflos und im Übermaß reagiert“, so Papier. „Wenn das Recht aber nur auf dem Papier steht und gar nicht durchsetzbar ist, ist das Gift für einen freiheitlichen Rechtsstaat“, sagte der 78-Jährige, der von 2002 bis 2010 an der Spitze des höchsten deutschen Gerichts stand.
Ex-Verfassungsrichter gegen „schwerwiegende Freiheitsbeschränkungen aus bloßer Vorsorge“
Manche Entscheidungen bezeichnete der ehemalige Richter als „fast absurd“ oder schlichtweg nicht umsetzbar - zum Beispiel die Aufenthaltsbeschränkungen in Privatwohnungen, die nur schwer kontrollierbar waren. Ein weiterer großer Mangel im Corona-Management der Bundesregierung stellt für Papier die Passivität der Parlamente dar: Der Beschluss des Bundestages, der eine epidemische Lage nationalen Ausmaßes feststellte, sei reine „Symbolpolitik“ gewesen. „Letztlich war es weiterhin die Exekutive, die massiv in die Freiheitsrechte der Bürger eingriff. Das geht meines Erachtens bei so wesentlichen Fragen im Verhältnis von Staat und Bürgern nicht.“
Für die Zukunft forderte Papier: „Schwerwiegende Freiheitsbeschränkungen aus bloßer Vorsorge sollte es künftig nicht mehr geben. Wir müssen uns rechtsstaatlich wappnen, das waren wir diesmal lange Zeit nicht.“ Es müsse wieder klarer werden, dass der gute Zweck in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht jedes Mittel heilige. Das betreffe auch das legitime Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. „Nutzen und Schaden müssen stets in einem angemessenen Verhältnis stehen, und die Beweislast für das Vorliegen der Verhältnismäßigkeit trägt der Staat“, so Papier. (sf/ dpa)