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„Widerstand 2020“ und Co.: Verschwörungstheorien „bis in die Mitte“? Wer wirklich mitmischt

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Von: Florian Naumann

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Corona-Proteste: Verschwörungstheorien „bis in die Mitte“? Wer Fäden zieht - und wie die Politik reagiert
„Widerstand 2020“: Ein Demonstrant wird am Rande einer Demonstration am 1. Mai in Berlin von Polizisten mit Mundschutz abgeführt. © dpa / Christoph Soeder

Die Corona-Proteste gehen in die nächste Runde - Politiker sind beunruhigt. Tatsächlich sind an den Protesten auch fragwürdige Gruppen beteiligt.

München/Berlin - Öffentliche Debatten um das Für und Wider von Regierungsentscheidungen sind eigentlich Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Selbst wenn sie mal lautstark ausfallen. Und gerade, wenn es um Grundrechte geht. Doch in der Corona-Krise ist, wie so oft, die Sachlage etwas komplexer. 

Nach Wochen der Einigkeit bröckelt aktuell bei einigen Deutschen die Geduld mit den Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie. Für das Wochenende (16./17. Mai) sind wieder Demonstrationen angekündigt. Doch der Protest auf den Straßen geht nicht nur inhaltlich ans Eingemachte. Er könnte überall dort, wo der Infektionsschutz ignoriert wird - zuletzt etwa in München, wie tz.de* berichtete - auch eine Gefahr für andere Menschen im Lande werden. 

Eine explosive Mischung. Auch, weil sich nach Einschätzung von Experten bei vielen Corona-Protesten Gruppen vom äußeren rechten und linken Rand mit Verschwörungstheoretikern mischen - und auch mit Menschen, die einfach nur ihre Sorge um Grundrechte artikulieren wollen. Politiker vieler Parteien warnen eindringlich, krude Theorien könnten nun bis in die Mitte der Gesellschaft vordringen. Trotz erschütternder Berichte aus erster Hand, Übersterblichkeit auch in Deutschland und teils hoher Todesfallzahlen* - ein Überblick über die Lage:

Proteste gegen Corona-Maßnahmen: Wie groß ist das Phänomen?

Vorausgeschickt: Die Proteste beherrschen Mitte Mai zwar die Schlagzeilen in Deutschland. Es ist allerdings beileibe keine Mehrheit im Lande, die sich in Fundamentalopposition zu den Corona-Maßnahmen begibt. Weiterhin befürworten rund drei Viertel der Menschen in Deutschland die Entscheidungen der Politik, wie unter anderem Merkur.de* berichtet.

Und auch die 10.000 Menschen, die etwa in Stuttgart am Wochenende vom 9./10. Mai ihren Unmut öffentlich bekundeten, stellen - zumindest unter den üblichen Voraussetzungen - keine besonders große Demonstration dar. Zum Vergleich: Im Oktober 2018 gingen in Berlin 250.000 Menschen bei der sogenannten Unteil-Demo auf die Straße. Für allzu nachhaltige Debatten sorgte das damals nicht. Problem mit den aktuellen Protesten ist eher, dass sie größer als angekündigt ausfallen und Abstandsregeln auf der Strecke bleiben.

Zudem kam es in Zusammenhang mit Corona-Demos bereits mehrfach zu Übergriffen. Am 1. Mai wurde in Berlin ein Kamerateam der ZDF-Satiresendung "heute-show" attackiert. Am vergangenen Mittwoch wurde ebenfalls in Berlin ein ARD-Fernsehteam während einer Demonstration angegriffen. Am 9. Mai ging ein Rechtsextremist bei einer Versammlung in Dortmund auf Journalisten los. In Pirna wurden auch Polizisten angegriffen.

„Widerstand 2020“ und Co.: Wer mischt bei den Corona-Protesten in Deutschland mit?

Ein zentraler Akteur ist die Gruppe „Widerstand 2020“. Bei Demonstrationen sehr aktiv ist die Gruppierung „Nicht ohne uns“, hinter ihr steht ein Berliner Verein mit dem Namen „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“. In Stuttgart gibt es die Initiative „Querdenken 711“. Im Osten treten auch stadtbekannte Rechte als Organisatoren von „Montagsdemos“ auf, wie etwa ein Bericht der Mitteldeutschen Zeitung zeigt. Auch in Hamburg mischte die rechte Szene mit.

Klar ist, dass nicht ausschließlich Radikale demonstrieren: „Im Grunde findet man einen breiten Schnitt der Bevölkerung wieder - wenngleich es nicht die Mehrheit der Bevölkerung ist“, sagte der Politikwissenschaftler Lars Vogel noch Anfang Mai dem MDR. Der Chemnitzer Politikwissenschaftler Tom Mannewitz sieht allerdings auch Parallelen zur Pegida-Bewegung. Auch hier seien anfangs "besorgte Bürger" zusammengekommen, um zu demonstrieren, sagte er im Deutschlandfunk. Im Lauf der Zeit sei der Kreis der Demonstrierenden dann kleiner, homogener und politisch radikaler geworden.

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Bodo Schiffmann, Mitgründer von „Widerstand2020“, am 9. Mai bei einer Großdemonstration in Stuttgart. © AFP / THOMAS KIENZLE

Die Initiatoren von Widerstand2020 versuchten mit ihrer stark netzzentrierten Protest-Plattform „etwas kollektiv zu organisieren, was ohnehin schon gärt“, sagt der Soziologe Matthias Quent, Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Denkbar sei aber, dass das populistische Projekt demnächst von rechten Strukturen „übernommen“ werde, sagt er: "Verbreitet werden die Inhalte besonders in rechten und zum Teil antisemitischen Kreisen."

Quent sieht „Widerstand2020“ als diffuses Sammelbecken, wie er im ZDF erklärte: „Wissenschaftsfeinde treffen auf Verschwörungstheoretiker, Rechtspopulisten und linksesoterische Impfgegner.“

Ähnlich beurteilt die Berliner Innenverwaltung laut der Tageszeitung taz die Teilnehmerschaft der dortigen „Hygienedemos“. Diese sei „sehr heterogen“, es fänden sich auch „vereinzelte Rechtsextremisten, NPD-Mitglieder, Verschwörungtheoretiker, Impfgegner und Esoteriker“. Die Krise werde auch dazu genutzt, Menschen gegeneinander, gegen die Wissenschaft und gegen politische Verantwortungsträger aufzubringen, werden Quent und der Vorsitzende der Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Thüringen, Sandro Witt, vom Deutschlandfunk zitiert.

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) sieht wegen der Entwicklungen Anlass zu Besorgnis. "Das Gefährliche daran ist, dass diese Leute mit ihren kruden Thesen auch Menschen erreichen, die eigentlich fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen", sagte er dem Spiegel. "Die lassen sich dann für die Verbreitung von Verschwörungstheorien instrumentalisieren."

Corona-Proteste und die Protagonisten: Verschwörungstheoretiker, Rechte - aber auch Promis und ein Kardinal

Die taz hat in einer Analyse auch konkrete Protagonisten der Corona-Demos benannt. Darunter findet sich etwa mit Ken Jebsen ein bekannter Verbreiter von verschwörungstheoretischen Ansätzen - er sei „so etwas wie der offizielle Medienpartner“ der Demos. Häufig auf Kundgebungen vertreten war dem Bericht zufolge auch der Rechtsextreme Nikolai Nehrling - er ist der Volksverhetzung verurteilt und tritt im Netz als „Der Volkslehrer“ in Erscheinung.

Aber auch Personen aus dem eher linken Spektrum machte das Blatt aus. Darunter etwa der „Traditionslinke“ Uli Gellermann, der unter anderem für das russische Medienangebot Sputnik News aktiv ist, oder den früheren taz-Autor Anselm Lenz, der 2014 das linksalternative „Haus Bartleby“ mitgründete und nun „Nicht ohne uns“ mit markigen Worten mitanführt - ein „Notstandsregime“ wolle einen „Kapitalismuscrash“ verdecken, behauptet er dem Bericht zufolge.

Pikanterweise spielen aber auch Vertreter der Kirchen, Prominente wie der TV-Koch Attila Hildmann (Hildmann wird jetzt von einem Hackerkollektiv angegriffen*) und in einem Fall sogar ein Mitarbeiter des Innenministeriums eine Rolle. In Thüringen tauchte der Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich (FDP) als Hauptredner bei einem „Spaziergang“ auf, an dessen Bewerbung offenbar auch NPD- und Reichsbürger-nahe Personen mitwirkten, wie der Tagesspiegel berichtet - Kemmerich wurde dabei ohne Mundschutz und ohne den nötigen Sicherheitsabstand zu anderen Demonstranten abgelichtet.

Heftige Reaktionen löste unter anderem der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller aus. Man habe Grund zu der Annahme, „dass es Kräfte gibt, die daran interessiert sind, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen“, hieß es in einem Schreiben, das er mitunterzeichnete: „Diese illiberalen Steuerungsversuche sind der beunruhigende Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht“, ist weiter zu lesen. Die Deutsche Bischofskonferenz distanzierte sich aber deutlich. Die Bischöfe hatten die Einschränkungen in Deutschland schon zuvor „vernünftig und verantwortungsvoll“ genannt.

Corona-Demonstrationen in Deutschland: Politik reagiert - Protestieren ja, aber nicht mit den falschen Leuten

Von Politik und Experten gibt es deshalb Forderungen an Kritikern der Corona-Maßnahmen, sich von fragwürdigen Kräften im Umfeld der Demonstrationen zu distanzieren. FDP-Chef Christian Lindner etwa ließ in seiner Reaktion auf Kemmerichs umstrittenen Auftritt durchblicken, er verurteile nicht etwa den Einsatz für Bürgerrechte und Corona-Lockerungen - wohl aber die gemeinsame Sache „mit obskuren Kreisen“ und den Verzicht „auf Abstand und Schutz“.

Konsens quer durch die Parteienlandschaft scheint auch: Prinzipiell ist es nicht rechtswidrig, auch möglicherweise abseitige Standpunkte auf der Straße zu äußern. „Zu den Freiheiten unseres Grundgesetzes gehört auch, dass jeder grundsätzlich jeden Unsinn öffentlich erzählen darf“, erklärte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am Sonntag dem Münchner Merkur*. Zugleich beobachte man aber sehr genau, „wenn radikale Gruppen versuchen, mit dem Thema Corona ihr Süppchen zu kochen“. Und gefährliche Rücksichtlosigkeiten werde man nicht mehr dulden.

„Wir machen nichts falsch. Aber man kann nicht erwarten, dass alle Menschen in einer Demokratie einer Meinung sind“, äußerte sich Baden-Württembergs Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann am Sonntagabend in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“. „Es ist ihr gutes Recht, dagegen zu protestieren.“ Die Proteste führte Kretschmann auch auf den Erfolg der Maßnahmen zurück.

Proteste gegen Corona-Maßnahmen: Wie will die Politik reagieren?

Der CDU-Innenexperte Armin Schuster rief zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit Corona-Protestgruppen wie "Nicht ohne uns" oder "Widerstand 2020" auf. "Diese Gruppen als Spinner abzutun, greift mir zu kurz", sagte Schuster der Rheinischen Post. "Wir müssen sie mit ihrem Unsinn politisch stellen und als Saboteure unseres weltweit beachteten Infektionsschutzerfolges entlarven."

Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) plädierte ebenfalls dafür, die Notwendigkeit der Entscheidungen stärker zu begründen. „Ich glaube, das ist eine Aufgabe, die wir noch mehr wahrnehmen müssen, dass deutlich wird, warum denn bestimmte Einschränkungen immer noch da sind“, sagte Lambrecht im „Bericht aus Berlin“ der ARD. Einige Kritikpunkte der Protestierenden - etwa eine drohende Impfpflicht, hat die Politik zumindest vorerst auch selbst ausgeräumt.

SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil wollte zuletzt die Bürger in die Pflicht nehmen: „Wir brauchen einen Widerstand der normalen Leute, das fängt im Bekanntenkreis, in den eigenen WhatsApp-Gruppen an“, forderte er mit Blick auf online verbreitete Verschwörungstheorien.

Just in Sachen Transparenz könnte es für die öffentlichen Stellen aber noch Nachholbedarf geben: So berichtete der NDR am Freitag, das in der Viruskrise für die Verbreitung von neuen Erkenntnissen in Deutschland zentrale Robert-Koch-Institut habe „mehrere Bitten um Datensätze (...) ohne stichhaltige Gründe abgelehnt“. „Diese Politik kann zu mangelndem Verständnis in der Öffentlichkeit führen - und damit im Zweifel zu mangelnder Akzeptanz der Corona-Risiken“, urteilte der Sender.

Der Satiriker Jan Böhmermann und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach greifen unterdessen zum Stilmittel des Galgenhumors: „Oder ist Corona ein Trick der Plexiglasindustrie?“ spottete der ZDF-Mann mit Blick auf kursierende Verschwörungstheorien. „Neiiinnn... Es war natürlich der militärisch industrielle Toilettenpapierkomplex“, widersprach Lauterbach per Tweet.

„Demonstranten mit verständlichem Anliegen, Seit’ an Seit’ mit Verschwörungstheoretikern“ - einen Kommentar zu den Demonstrationen können Sie bei Merkur.de* lesen.

fn (mit Material von dpa und AFP)

*Merkur.de und Hamburg24.de sind Teil des bundesweiten Ippen-Digital-Redaktionsnetzwerks.

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