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Hongkonger Polizei fahndet mit Haftbefehl nach Aktivisten - „Wanted-Person“ äußert sich

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Von: Anna-Katharina Ahnefeld

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Gegen im Ausland lebende Aktivisten hat die Hongkonger Polizei einen Haftbefehl ausgesprochen. Warum genau, ist unklar. Für die Familien der Betroffenen hat das drastische Auswirkungen.

Göttingen/Hongkong - Seine Familie in Hongkong hat Angst vor ihm, sagt Ray Wong. Nicht direkt vor ihm, aber vor seinem Status als „Wanted Person“. Eine Kontaktaufnahme kann für sie dramatische Konsequenzen haben. Seit Ende Juli hat die Hongkonger Polizei einen Haftbefehl gegen den nach Deutschland geflüchteten Wong, der mittlerweile in Göttingen studiert, erlassen.

Wie sich das anfühlt, wenn plötzlich eine Trennwand der Angst zwischen einem selbst und der Familie gebaut wird, darüber spricht Ray Wong nicht. Vielleicht auch, weil er sich an das Gefühl gewöhnt hat, abgeschnitten zu sein von allem, was er mal kannte. Bei manchen Menschen ist jede kleinste Gefühlsregung in der Mimik abzulesen - Wong gehört nicht zu ihnen. Er ist ruhig, beinahe zu introvertiert für eine Person, die die Öffentlichkeit auf die Missstände in Hongkong aufmerksam machen will.

Haftbefehl gegen Hongkong Aktivisten: Ray Wong ist nicht der stereotype Anführer

„Ich bin überwältigt von den Gefühlen“, sagt Wong auf die Frage, wie es ihm wirklich geht. Ein Versuch, seine Fassade zu durchdringen. Seine Stimme wird angespannter. „Ich sorge mich um meine Familie, meine Freunde. Erst heute wurde ein Freund von mir verhaftet“.

Aktuell ist er zu Besuch bei Bekannten in London. Während des Videogesprächs mit ihm ist im Hintergrund ein aufgeräumtes Zimmer zu erkennen. Das sorgfältig gemachte Bett, eine sortierte Kleiderstange. Wong trägt ein weißes Hemd und wie stets seine schwarze Nickelbrille. Alles ordentlich und kontrolliert.

Dass Ray Wong ein aus Hongkong geflohener bekannter Aktivist ist, könnte man in solchen Momenten vergessen. Zu sehr weicht er von der stereotypen Vorstellung eines Anführers ab. Wie viel er geopfert hat, lässt er nur selten durchblicken. Was sich in Hongkong in den vergangenen Jahren abgespielt hat, ist mehr als nur Ray Wongs Einzelschicksal, dessen ist er sich bewusst.

Haftbefehl gegen Hongkong Aktivisten: Situation in der Sonderverwaltungszone verschlechtert sich

Grundlage für den Haftbefehl gegen Ray Wong und weitere Aktivisten ist das neue und weltweit umstrittene Sicherheitsgesetz in der Sonderverwaltungszone Chinas. Es stellt vage „Separatismus“, „Subversion“, „Terrorismus“ und „ausländische Einflussnahme“ unter Strafe. Rückwirkend, so Wong, habe die Regierung das Gesetz gegen ihn angewandt. Am 01.08.2020 berichtete die Tagesschau, Deutschland habe das Auslieferungsabkommen mit Hongkong ausgesetzt.

Der Hongkonger Aktivist Ray Wong
Hongkong Aktivist Ray Wong © Swen Pförtner/dpa

Haftbefehl gegen Hongkong Aktivisten: „Wanted Person"

Ray Wong ist nun eine „Wanted Person“. Der Vorwurf gegen ihn und fünf weitere Aktivisten: Sezession und das Kollaborieren mit ausländischen Mächten. Neben Wong sind folgende Personen betroffen:

De facto ist das neue Gesetz das Ende des Grundsatzes „Ein Land, zwei Systeme“. Hongkong wurde 1997, bei der Rückgabe der ehemaligen britischen Kronkolonie an China, für 50 Jahre Autonomie zugesichert. Eine Transitionsphase, die die Kommunistische Partei in Peking nun im Zeitraffer übersprungen hat. Mit dem neuen Gesetz baut sie ihre Machtposition in Hongkong aus - und absorbiert die Sonderverwaltungszone mehr und mehr.

Die US-amerikanische NGO „Human Rights Watch“ sieht das Vorgehen gegen die sechs Aktivisten als Angriff auf die Freiheitsrechte. Auf der Homepage bezeichnet Sophie Richardson, zuständig für China, die Haftbefehle als „regressive Kampagne“.

Haftbefehl gegen Hongkong Aktivisten: Auch Nathan Law in Großbritannien ist Zielscheibe

Dass er künftig eine per Haftbefehl gesuchte Person ist, hat Ray Wong über Freunde in Hongkong erfahren. Nicht von der Hongkonger Regierung oder Polizei. Denn dass ein Haftbefehl gegen sechs im Ausland lebende Aktivisten erlassen wurde, unter anderem Nathan Law, hat sich ab dem 31.07.2020 zunächst über chinesische Medien verbreitet, die als pekingtreu gelten.

„Ich fand es sehr lächerlich", sagt Wong zu seiner ersten Reaktion auf den Haftbefehl. Ihm zufolge habe die Hongkonger Regierung ursprünglich behauptet, das neue Gesetz würde nicht rückwirkend angewendet werden. Exakt das passiert aber nun. Denn nach dem Erlass des Sicherheitsgesetzes am 01.07.2020 habe er seiner Kenntnis nach nichts Kritisches bezüglich Hongkong oder China öffentlich geäußert. Was ihm oder den anderen Aktivisten genau vorgeworfen werde, wisse er nicht. Mit Nathan Law hat sich Ray Wong vor wenigen Tagen in London getroffen, um sich über die Ereignisse auszutauschen.

Haftbefehl gegen Hongkong Aktivisten: Sicherheitsgesetz ängstigt die Menschen

BBC berichtete, dass das chinesische Staatsfernsehen die sechs Menschen als „troublemakers" bezeichnete. Erst kurz zuvor wurde bekannt, dass die für September geplanten Hongkonger Parlamentswahlen um ein Jahr verschoben werden. Wegen des neuartigen Coronavirus heißt es von offizieller Seite. Wegen der Befürchtung, wie die Wahlen ausgehen könnten, sagen Oppositionelle in Hongkong. Denn pro-demokratische Politiker hatten gehofft, die Wut der Bevölkerung über das neue Sicherheitsgesetz für sich nutzen zu können.

Haftbefehl gegen Hongkong Aktivisten: Ray Wong hat sich eingerichtet im Exil in Göttingen

Der bekannte Aktivist ist 2017 aus Hongkong nach Deutschland geflohen - als erster Geflüchteter aus der chinesischen Sonderverwaltungszone, dem Deutschland Asyl gewährt hat (wir berichteten). Er hat sich eingerichtet im Exil, soweit das eben möglich ist. Hat Deutsch gelernt, seine Verbindungen nach Hongkong aufrecht gehalten und daran gearbeitet, die internationale Gemeinschaft zu alarmieren.

Sonderverwaltungszone Hongkong
Bevölkerung7,451 Millionen (2018)
RegierungschefinCarrie Lam
Fläche1106,7 km²
SpracheChinesisch (Kantonesisch, Mandarin), Englisch

Eine schwere Aufgabe, vor allem für einen Menschen, der nicht das Rampenlicht sucht. Kontakte aufbauen, die Entwicklungen in Hongkong beobachten. Tagelang wie an einem Tropf vor Laptop und Fernseher hängend, auf die neuesten Meldungen wartend. Das Jahr der Demonstrationen in den Straßenschluchten der Millionenmetropole, das den Blick der Weltgemeinschaft auf die Vorgänge in Hongkong lenkte. Auf eine Bewegung, getragen und verteidigt von der Jugend und Zukunft Hongkongs - gegen eine der Supermächte der Welt.

Sonderverwaltungszone China: Haftbefehl abermals Zäsur für Ray Wong

Für den ehemaligen Straßenkämpfer war das Sezieren der Ereignisse aus der Ferne Alltag geworden. Bis zum 31.07.2020. Abermals eine Zäsur in Ray Wongs Leben, das für seine 26 Jahre bereits viele Furchen und Risse aufweist. Bezüglich des Haftbefehls selbst habe er keine spezifischen Gefühle, attestiert Wong im Gespräch trocken. Zu oft habe er schon ähnliche Meldungen von der Hongkonger Polizei erhalten - 2019 habe ihn diese mit der Androhung kontaktiert, sich an Interpol und die deutsche Regierung zu wenden, die ihm politisches Asyl gewährt hat. Doch bis Ende Juli 2020 passierte nichts.

Ihm zufolge gehe es der chinesischen Regierung darum, Angst vor den Aktivisten zu verbreiten. Angst davor mit ihnen in Kontakt zu treten und durch das neue Sicherheitsgesetz bestraft zu werden. „Für mich persönlich ändert sich durch den Haftbefehl nichts. Aber für die Menschen um mich herum“, sagt Wong. Wie die South China Morning Post berichtete, habe Außenminister Heiko Maas an dem Tag das Auslieferungsabkommen an Hongkong ausgesetzt, an dem Carrie Lam die kommenden Wahlen um ein Jahr verschoben habe und Ray Wong auf die Wanted-List gesetzt wurde.

Auslieferung an Hongkong: Festnahme von Jimmy Lai und Agnes Chow

„Die Entscheidung der Regierung von Hongkong, ein Dutzend Oppositionskandidaten für die Wahl zu disqualifizieren und die Wahlen zum Gesetzgeber zu verschieben, ist eine weitere Verletzung der Rechte der Bürger von Hongkong“, äußerte sich Heiko Maas diesbezüglich.

Er sei froh über Deutschlands Reaktion auf Chinas Vorstoß, sagt Ray Wong. „Als ich von dem Haftbefehl gehört habe, fragte ich das Auswärtige Amt, ob ich eine Auslieferung zu befürchten habe“, berichtet Wong. Deren Antwort: „Nein. Ganz bestimmt nicht.“ Er betont diese Worte des Auswärtigen Amtes stark, während er sie ausspricht und wechselt dabei vom Englischen ins Deutsche. In dem Moment ist seine Erleichterung spürbar. Dann zieht er sich sofort wieder zurück, in die Rolle des Aktivisten.

Trotz allem behält Ray Wong seine Hoffnung, eines Tages in seine Heimat zurückzukehren. Viele Menschen in Hongkong würden erkennen, dass die Freiheit, gegen die Hongkonger Regierung vorzugehen, mehr und mehr abgeschnürt werde. Doch das Ende Hongkongs sei das noch nicht, sagt Wong.

Kampf für Freiheit in Hongkong: Protestform verlagert sich auf die Wirtschaft

„Vor dem Sicherheitsgesetz hatten die Menschen Hoffnung, innerhalb Hongkongs etwas verändern zu können“, sagt Wong. Doch nach den jüngsten Verhaftungen, wie die des Medienmoguls Jimmy Lai oder der Aktivistin Agnes Chow, sei klar, dass das nicht funktionieren werde. „Aber wir Hongkonger sind sehr kreativ. Als Jimmy Lai verhaftet wurde, haben die Menschen sein Unternehmen Apple Daily unterstützt, indem sie Aktien aufgekauft haben." Er glaube nicht, dass die Menschen Angst hätten weiterhin für die Freiheit Hongkongs zu kämpfen. Nur die Art und Weise verändere sich.

Durch das neue Sicherheitsgesetz ist die internationale Gemeinschaft alarmiert worden - und die Möglichkeit von Sanktionen gegen China zumindest auf der Agenda gelandet. „Das ist der Weg, um China verantwortlich zu machen.“ Ray Wong glaubt, dass der Tag, an dem er nach Hongkong zurückkehren kann, näher rückt.

So wie Joshua Wong, der für viele das Gesicht der Demokratie-Bewegung ist. In der Dokumentation „Joshua Wong: Teenager Vs. Superpower“ (2017) von Joe Piscatella hört man ihn 2014 als Teenager vor zahlreichen jungen Hongkongern folgende Worte sprechen: „Egal zu welchem ​​Preis, wir können dies nicht auf die nächste Generation übertragen. Diese Generation muss unsere Mission erfüllen.“(Katharina Ahnefeld)

Deutschlands Außenminister Heiko Maas hat das vorläufige Aus des Auslieferungsabkommens mit Hongkong bestätigt. Entscheidend war letztlich aber weniger das Staatssicherheitsgesetz.

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