Russlands Atomschlag-Wende? US-Experten zeigen Wandel bei Putins innerstem Zirkel auf

In den vergangenen Wochen deuteten russische Beamten immer wieder den Einsatz von Atomwaffen an. Nun hat sich die Rhetorik des Kremls offenbar gewandelt.
Moskau — In den letzten Monaten des Ukraine-Kriegs nahm die Angst vor einem russischen Atomschlag immer weiter zu. Die russische Macht-Elite im Kreml stellte mit radikalen Äußerungen immer wieder den Einsatz von Atomwaffen in Aussicht. Zuletzt sorgte auch der von Moskau verbreitete Vorwurf, Kiew plane den Bau einer „schmutzigen Bombe“ für steigende Unsicherheit des Westens.
Die russischen Drohungen verfehlten dabei jedoch offenbar ihre gewünschte Wirkung. Der Westen steht weiter geschlossen hinter der Ukraine und versorgt diese auch mit Kriegsgerät. Die US-Regierung kündigte erst am Freitag ein neues Unterstützungspaket in Höhe von 400 Millionen Euro an. Und der Kreml? Der ändert offenbar seine Strategie. Wie die Experten des US-Thinktanks „Institute for the Study of War“ (ISW) analysieren, setzen die mächtigen Männer in Moskau seit Anfang November wohl vermehrt auf atomare Deeskalation.
Ukraine-News: Atomschlag-Wende im Kreml? Verteidigungsministerium schlägt versöhnliche Töne an
So veröffentlichte das russische Außenministerium in der vergangenen Woche ein Statement zur „Prävention eines Atomkriegs“, in dem ungewöhnlich sanfte Töne angeschlagen werden. In der Stellungnahme heißt es: Russland ist in seinem Handeln „strikt und konsistent von dem Standpunkt der Unzulässigkeit eines Atomkriegs geleitet, in dem es keine Gewinner gibt und der niemals entfesselt werden darf.“ Weiter erklärte das Ministerium von Sergei Lawrow auch, dass es sich für die Reduzierung und Begrenzung von Atomwaffen einsetzen wolle.
Nach Wochen voller Drohungen — Russland denkt bei nuklearer Abschreckung wohl um
Bemerkenswert sind diese Aussagen vor allem mit Blick auf die verbalen Entgleisungen von russischen Beamten in der Vergangenheit. Allen voran sorgte der stellvertretende Chef des russischen Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew, immer wieder für Aufsehen. Zuletzt warf der frühere Präsident dem Westen vor, Russland zum Einsatz von Atomwaffen zu drängen. Im September drohte der 57-Jährige offen mit dem „Untergang der Menschheit“.
Den Beobachtungen des ISW zu Folge fokussiere auch Medwedew sich mittlerweile in seiner Kommunikation mehr auf den Zusammenhalt innerhalb Russlands, als auf die Androhung eines Atomschlags.
Putin weist Vorwürfe zurück: Kreml habe Atomwaffen-Einsatz nie diskutiert
Der Versuch der Deeskalation durch Moskau lässt sich auch beim mächtigste Mann des Landes beobachten. Präsident Wladimir Putin erklärte bereits Ende Oktober in einer Rede, Russland sehe keine Notwendigkeit dazu, Atomwaffen in der Ukraine einzusetzen. Der Kreml habe deswegen auch nie den Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine diskutiert, behauptet der russische Staatschef.
Informationen der US-Regierung zufolge soll die russische Militärführung im Oktober jedoch sehr wohl den Einsatz von Atomwaffen diskutiert haben. Bei einem Treffen sollen Beamten besprochen haben, wann und wie man Nuklearwaffen einsetzen könne. Das berichtete der US-Sender CNN mit Verweis auf regierungsnahe Quellen. Der russische Präsident soll an dem Treffen jedoch nicht teilgenommen haben.
US-Experten: Russlands Atomschlag-Drohungen verfehlten ihre Hauptziele
Nach Einschätzung der Experten vom ISW, verfolgte Russland mit dem Narrativ eines möglichen Atomschlags gegen die Ukraine vor allem zwei Ziele. Zunächst sollte die Unterstützung des Westens und der Nato für die Ukraine aus Sorge vor einem atomaren Konflikt gebrochen werden. Durch das Ausbleiben von westlichen Waffenlieferungen und finanziellen Hilfen sollte somit die Gegenoffensive der ukrainischen Armee gestoppt werden.
Weiter wollte der Kreml die Ukraine nach Ansicht des ISW durch vermehrte Drohung zu Verhandlungen bewegen. In diesen hätte Russland dann die Anerkennung der völkerrechtswidrigen Annexionen der Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson durchsetzen können. Beide Ziele konnten der Kreml trotz anhaltender Drohungen jedoch nicht erreichen. Das Ausbleiben des Erfolgs hat den Kreml nun offenbar sogar zu einer Wende bewegt.
Hohe Kosten, kaum Gewinn: Kreml schwenkt wohl bei Atomschlag-Drohungen um
„Der rhetorische Wechsel des Kreml deutet darauf hin, dass hochrangige russische Militärkommandeure sich wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad der massiven Kosten für den geringen operativen Gewinn bewusst sind, die bei einem Einsatz von Atomwaffen durch Russland gegen die Ukraine oder die NATO entstehen würden“, schreibt das ISW in seinem Bericht. Der Analyse zur Folge scheut Russland also einen tatsächlichen Einsatz von Nuklearwaffen aus Sorge vor den Konsequenzen. (fd)