Palmer verblüfft Lanz mit einfacher Gaskrisen-Lösung – „Aber dafür gehe ich in den Knast“
Ranga Yogeshwar und Boris Palmer diskutieren über den Energiemarkt. Roderich Kiesewetter nimmt einen Scherz von Lanz für voll, dann wird es skurril.
Hamburg – Für gewöhnlich nimmt bei „Markus Lanz“ der Hauptgesprächspartner den Platz zur Linken des Moderators ein. Dort sitzt in der Sendung vom Dienstagabend (6. September) der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter – doch dann kommt alles anders. Denn Markus Lanz gegenüber sitzt der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer. Und der nimmt sich nicht nur den größten Redeanteil, sondern erzeugt auch durch Zuspitzungen gekonnt Aufmerksamkeit. Dagegen erscheint Oppositions-Mann Kiesewetter nahezu zurückhaltend und bietet bis auf die obligatorische Kritik am Kanzler wenig Profil. Skurril wird es, als Lanz Kiesewetter bittet, direkt in die Kamera sprechen.
Die Themen der Sendung sind die Energiepolitik, und die deutsche Strategie im Ukraine-Krieg. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) hatte zu Beginn der Woche mitgeteilt, dass zwei der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke bis April 2023 im Reservemodus weiterarbeiten, falls zusätzliche Energie dringend benötigt wird.
Energiekrise Thema bei „Lanz“ (ZDF): Yogeshwar erklärt „interessante Lektion aus Frankreich“
Der Wissenschaftler und ARD-Moderator Ranga Yogeshwar sieht aus mehreren Gründen in dieser Entscheidung keinen Meilenstein. Die Relevanz des Atomstroms sei schlicht zu gering, sie mache bloß sechs bis sieben Prozent Stromanteil aus. Außerdem habe man in diesem Sommer „eine interessante Lektion aus Frankreich“ erhalten. Aufgrund temperaturbedingt niedriger Pegelstände in den Flüssen konnten die dortigen Atomkraftwerke nicht ausreichend gekühlt werden und mussten heruntergefahren werden.
„Deswegen hat Frankreich Strom aus Deutschland geholt, den wir aus Sonne und Wind gewinnen“, führt Yogeshwar an. „Und Gas“, schießt Lanz dazwischen und macht aus seinem Unverständnis keinen Hehl: „Ich habe den Eindruck, bald kommt ein Beamter zu mir nach Hause und kontrolliert, wie lange ich dusche. Andererseits wird in Deutschland so viel Strom aus Gas gewonnen wie noch nie. Warum machen wir das wertvolle Gas so leichtfertig zu Strom?“ Yogeshwar begründet das mit dem Preis und dem Versäumnis, sich in energetischer Hinsicht breiter aufgestellt zu haben. Dies sei eine „langfristige Sünde“.
„Markus Lanz“ - diese Gäste diskutierten am 6. September:
- Roderich Kiesewetter (CDU) – Bundestagsabgeordneter und Oberst a.D.
- Ranga Yogeshwar – Wissenschaftler und Moderator
- Alice Bota – Zeit-Journalistin
- Boris Palmer (Grüne) – Oberbürgermeister der Stadt Tübingen
Boris Palmer ist als Oberbürgermeister der Stadt Tübingen auch Aufsichtsratsvorsitzender der dortigen Stadtwerke. Die Stadtwerke Tübingen betreiben bundesweit Solarparks. Obwohl die Herstellungskosten dieselben sind, können sie den Strom nun für ein Vielfaches an der Strombörse verkaufen. „Der Preis wird durch die teuerste Energiegewinnung bestimmt, die Gaskraftwerke sorgen also gerade für den hohen Energiepreis“, erklärt Palmer. „Das heißt, Sie machen gerade Zufallsgewinne?“, feixt Lanz. „Ja“, antwortet Palmer. „Wir haben ganz anders kalkuliert.“ Die Frage nach seiner Haltung zur Besteuerung von Zufallsgewinnen beantwortet Palmer trocken: „Ich bin gegen diese Gewinne.“

„Lanz“: Journalistin wirft Grünen Ideologie bei Akw-Frage vor - Palmer widerspricht nicht
Yogeshwar fragt sich, ob Energie ein Markt sein sollte. „Wenn mir ein Pullover zu teuer ist, lasse ich ihn hängen, aber die Energie brauche ich.“ Lanz rechnet vor, dass die aktuell eingesetzten beiden Brennstäbe im Atomkraftwerk Isar 2 bis März 2023 mit 60 bis 70 Prozent Leistung verbraucht könnten und über einen Verwertungsvorgang bis Sommer 2023 mit 80 Prozent Leistung weitergenutzt werden könnten. „Warum nutzen wir das nicht? Wir brauchen doch diesen Strom“, stellt Lanz in den Raum. Die Frage sei „parteipolitisch aufgeladen“, urteilt die Journalist Alice Bota. Es gehe zwar bloß um ein paar Monate Laufzeitverlängerung, die Sorge der Grünen sei aber, dass die FDP die Frage nach der nuklearen Energie neu stellen könnte, wenn die Grünen nachgeben. „Das Thema wird in Ideologie ertränkt“, sagt Bota.
Boris Palmer ist von Hause aus ein Grüner – und stimmt Bota zu. „Nennen Sie es Ideologie, Haltung, Überzeugung oder wie Sie wollen“, antwortet Palmer. „Wegen dieser machen wir Politik.“ Dann überrascht der Kommunalpolitiker mit Humor: „Ich trage heute extra einen Anzug in der Farbe ruhendes Grün.“ Lanz ist sichtlich irritiert: „Was?“ Palmer wiederholt. Und erklärt die Anzugfarbe, die der gewöhnliche Zuschauer schlicht wohl als „Grau“ beschreiben würde.
Palmer verblüfft bei „Lanz“ mit einfacher Gaskrisen-Lösung
„Ich bin ruhendes Mitglied der Grünen, deswegen trage ich ruhendes Grün.“ Für seine früheren Parteifreunde hat Palmer dennoch Lob. Etwa für Wirtschaftsminister Robert Habeck der mit der Entscheidung über den Fortbetrieb der Atomkraftwerke über seinen Schatten gesprungen sei. Schließlich werben die Grünen seit Jahrzehnten für Atomausstieg. „Aber alles weitere in der Atomfrage ist für die Partei einfach zu viel“, beurteilt Palmer. „Ich als ruhender Grüner kann das sagen“.
Anschließend redet sich Palmer in Rage: „Als Aufsichtsratsvorsitzender der Stadtwerke Tübingen weiß ich, dass wir die Gaskraftwerke sofort abstellen könnten.“ Für diesen Fall hätten sämtliche Stadtwerke einen Ölkessel. Warum wird es nicht gemacht? „Ich kann es nicht machen, weil ich dafür ins Gefängnis gehen würde.“ Er habe sich aktuelle Zahlen geben lassen. Für die Stadtwerke Tübingen würde dies bis März nächsten Jahres einen Verlust von 25 Millionen Euro bedeuten. „Dafür gehe ich in den Knast, das ist nämlich Untreue.“ Deswegen wirbt Palmer bei der Regierung für einen neuen gesetzlichen Rahmen. Verluste der Stadtwerke sollten in diesem Fall aufgefangen werden. Fünf Milliarden Euro seien dafür nötig.
„Lanz“ im ZDF: Kieswetter springt übers Stöckchen – appelliert in „Kamera drei“
Kiesewetter wirbt hingegen für mehr Rückendeckung für die Wirtschaft. „Zuerst muss die Wirtschaft funktionieren.“ Keiner habe etwas davon, wenn er arbeitslos in der geheizten Wohnung sitze. Um die Versorgung der Wirtschaft zu gewährleisten, könne man „auch mal ein bisschen mehr anziehen“. Der CDU-Mann schwenkt in einen Appell um und spricht von „zwei, drei harten Jahren“. Lanz sagt wohl spaßeshalber: „Die Kamera drei ist ihre.“ Was folgt, ist skurril, denn Kiesewetter reagiert darauf und spricht tatsächlich frontal in die Kamera zu den Zuschauern, um diese zum Zusammenhalt aufzurufen.
Zum Abschluss diskutiert die Runde die richtige Strategie im Ukraine-Krieg. Kiesewetter kritisiert Bundeskanzler Olaf Scholz. Dass der Bundestag fraktionsübergreifend mit großer Mehrheit beschließt, die Ukraine zu unterstützen, werde vom Kanzler einfach missachtet. Bis auf die Panzerhaubitze 2000 sei nichts unmittelbar in die Ukraine geliefert worden. „Wo sind die Leoparden, wo sind die Marder?“, fragt Kiesewetter. Jeweils 100 könnten ausgeliefert werden, aber es werde einfach nicht gemacht. Auch der Umgang mit dem ukrainischen Premierminister Denys Schmyhal, der am Sonntag im Bundeskanzleramt war, stört Kiesewetter: „Eine Pressekonferenz mit dem Palästinenserpräsident, der den Holocaust leugnet, ist möglich, aber mit dem ukrainischen Premier, der um Unterstützung bittet, wird dies vermieden.“
Im Video: Wer ist eigentlich Markus Lanz?
„Markus Lanz“ – Das Fazit der Sendung
Man kann im Nachhinein sagen: Wer Boris Palmer bestellt, bekommt ihn auch. Der Grünen-Politiker hat die Sendung getragen. Damit hat Palmer den angedachten Hauptgesprächspartner von Lanz, Roderich Kiesewetter, deutlich in den Schatten gestellt. Der unauffällige Auftritt Kiesewetters schwappt beinahe in das Unangenehme, als der Politiker über das von Lanz hingehaltene Stöckchen springt und eine Frontalansprache an die Zuschauer richtet. (Christoph Heuser)