Es wird eng für Erdogan: Die Türkei-Wahl naht – nun geht es ihm ums „Spalten“
In der Türkei ringt Recep Tayyip Erdogan um Zustimmung. Hinter jedem seiner Schritte steckt Kalkül. Denn die Wahl naht. Ein Experte erläutert die Strategie.
München – Außer ihm sitzt niemand an dem auf Hochglanz polierten Tisch. Recep Tayyip Erdogan beugt sich mit seinem Verteidigungsminister über ein großes Papier. Ein kurzes Raunen und Erdogan gibt den Angriffsbefehl. Aus dem Konferenzraum seiner Boeing 747-8i führt der türkische Präsident Krieg in den Nachbarländern. Festgehalten auf einem Video des türkischen Präsidialamts. Eine Inszenierung.
Mitte November war in einer Istanbuler Einkaufsstraße eine Bombe explodiert. Sechs Menschen starben. Erdogan macht die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die syrische Kurdenmiliz YPG für den Anschlag verantwortlich. Seither fliegt die Türkei Luftangriffe auf kurdische Stellungen in Nordsyrien und Nordirak. Für die pro-kurdische Partei HDP ist klar: Erdogan „hat den Wahlkampf mit seiner Kriegspolitik eröffnet, um seine politische Lebenszeit zu verlängern“, sagt Pervin Buldan, die Ko-Vorsitzende der Partei.
Türkei-Wahl: „Wenn die Kurden nicht an die Wahlurne gehen, hat Erdogan eine Chance“
Voraussichtlich im Juni 2023 – kurz vor seinem 20-jährigen Machtjubiläum – muss sich Erdogan zur Wiederwahl stellen. Es könnte eng werden. Umfragen deuten ein Patt an. Erdogans AKP und ihr rechtsextremer Koalitionspartner MHP kommen nach Stand der Dinge auf keine absolute Mehrheit. Dasselbe gilt aber für eine Oppositionsallianz aus sechs Parteien um CHP und die verbündete Iyi-Partei.
Für Erdogan geht es darum, die Opposition zu spalten – und das kann er am besten über die Kurdenfrage
Ob sich die Opposition gegen das Regierungsbündnis durchsetzen kann, hängt von den kurdischen Wählern ab. Die HDP gehört nicht zur Oppositionsallianz, ihre Wähler könnten aber das Zünglein an der Waage sein. „Wenn die Kurden für die Opposition abstimmen, wird Erdogan verlieren. Wenn sie nicht an die Wahlurne gehen, dann hat Erdogan eine Chance zu gewinnen“, sagt Günter Seufert, Leiter des Zentrums für angewandte Türkeistudien. Die aktuellen türkischen Angriffe in den Nachbarländern wirken also wie ein Brennglas auf die Arbeit der Opposition. Wie sich das Bündnis zu diesem Angriff positioniert, ist entscheidend für das Wahlverhalten der Kurden.
Erdogan vor der Türkei-Wahl: „Für ihn geht es darum, die Opposition zu spalten“
Eine einheitliche Linie zwischen stark religiösen und säkularen Parteien oder liberalen und konservativen Ausrichtungen zu finden, bleibt aber schwierig. „Für Erdogan geht es darum, die Opposition zu spalten – und das kann er am besten über die Kurdenfrage“, sagt Seufert.
Doch der Sechs-Parteien-Pakt setzt Erdogan unter Druck. Die Politiker stellten vergangene Woche einen Plan für Verfassungsänderungen vor: Die Befugnisse des Präsidenten sollen deutlich eingeschränkt werden. Seit einer Volksabstimmung 2017 herrscht Erdogan fast uneingeschränkt. Vorgesorgt für die nahende Wahl hat er ohnehin: Ein Großteil der türkischen Medien berichtet regierungsnah. Kritische Medien geraten unter Druck, Journalisten werden verhaftet. Und „auch die Justiz fällt sehr viele tendenziöse Urteile“, sagt Türkei-Experte Seufert.
Der Oppositionspolitiker und Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu muss das am eigenen Leib erfahren. In einem ominösen Prozess wird ihm vorgeworfen, Staatsbedienstete beleidigt zu haben. Die Staatsanwaltschaft fordert dafür eine Haftstrafe von mindestens 15 Monaten – ein Politikverbot inklusive. Als Mitglied der größten Oppositionspartei gilt Imamoglu als möglicher Herausforderer Erdogans bei der Präsidentschaftswahl.
Erdogan lässt die Muskeln spielen – bei Schweden, Ukraine, Griechenland und EU
Währenddessen feilt Erdogan an seinem internationalen Image. Im Krieg gegen die Ukraine gibt er sich bei den blockierten Getreide-Lieferungen als Vermittler. Am längeren Hebel positioniert sich der türkische Präsident bei der Frage über den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland. Zugleich droht er der Europäischen Union mit einem möglichen Flüchtlingsstrom. Und bei dem immer schwelenden Konflikt mit Griechenland lässt Erdogan die Muskeln spielen.
Dabei gäbe es im eigenen Land auch einiges zu tun. Die Inflation liegt jenseits der 80 Prozent. Doch seine Stammwählerschaft verliert Erdogan damit nicht. „Die Wirtschaftskrise nagt zwar an Erdogans Zustimmungswerten, aber sie allein führt nicht dazu, dass sich die Menschen politisch umorientieren“, sagt Seufert. Erdogan habe für die Unterschichten, die ihn wählen, eine Reihe an Wahlgeschenken: die Erhöhung des Mindestlohns, die Begrenzung der Preise für Lebensmittel und Medikamente und ein großes Wohnungsbauprogramm.
Aber nicht nur im eigenen Land sucht Erdogan die Wählergunst. Auch Deutschtürken dürfen wählen. Laut Welt verteilt die AKP hierzulande in Moscheen und türkischen Vereinen bereits Wahlwerbung. Erdogan liebt den Wahlkampf in Deutschland. Mit Erfolg: 2018 kam er hier auf fast 65 Prozent.
Leonie Hudelmaier