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Verkehrte Welt in Estland: Wie eine neu-rechte Partei bei den von ihr Ausgegrenzten punktet

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Von: Aleksandra Fedorska

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Ratssitzung der estnischen Partei EKRE.
Ratssitzung der estnischen Partei EKRE im Oktober. © Mihkel Maripuu/Imago

In Estland ist seit einigen Jahren eine rechte Partei auf dem Vormarsch: die EKRE. Bei Umfragen kommt sie mittlerweile auf 25 Prozent - und wird damit zur Gefahr für etablierte Parteien.

Tallinn – Erst seit wenigen Jahren, genauer seit 2012, gibt es eine neuen Bestandteil in der estnischen Parteienlandschaft: die EKRE, kurz für Eesti Konservatiivne Rahvaerakond. Bei Umfragen erreicht die politisch rechts verortete Partei mittlerweile Spitzenwerte von 23 bis 25 Prozent. Das ist eine erstaunlich hohe Zustimmung für eine recht neue Gruppierung, die sich politisch auf einige wenige Themen konzentriert.

Das Kernthema der EKRE ist die Identitätspolitik. Wohl auch durch die Corona*-Politik und scharfe familienpolitische Debatten in Estland stürmte die Partei zuletzt an die Spitze der Umfragen.

Estlands EKRE: Die rechte Protestpartei wird salonfähig – und machte sich Unzufriedenheit zunutze

Aleksandra Kuczyńska-Zonik, Analystin und Expertin für die Baltischen Staaten vom Institute of Central Europe und Lehrkraft an der Katholischen Universität Lublin Johannes Paul II., sieht die Anfänge der EKRE in der Protestbewegung zur Bankenkrise der Jahre 2008/2009, die Estland schwer getroffen hat. Estland* hatte im Zuge seiner postsowjetischen Transformation den größten Teil seiner Industrie aufgelöst. Wirtschaftsliberalismus war für Estland dabei der Leitgedanke.

Der EU-Beitritt führte zu einem weiteren Schub für den Finanzdienstleistungs- und Immobiliensektor. Gerade diese beiden Säulen der estnischen Wirtschaft traf die Bankenkrise besonders hart. Binnen kurzer Zeit platzte nicht nur die Immobilienblase sondern wurden auch ausländische Geldmittel, die den Bankensektor aufgeblasen hatten, abgezogen.

Die Esten mussten eine steigende Arbeitslosigkeit, tiefe Einschnitte in die Staatsausgaben und eine zusätzliche Flexibilisierung des Arbeitsmarktes hinnehmen. Die allzu verständliche Unzufriedenheit darüber machte sich die EKRE zunutze. Mit einer massiven Überbetonung der estnischen Identität konnte EKRE die Stimmen der enttäuschten Esten gewinnen. Die nationalorientierte Identitätsdefinition der Partei schließt die ethnischen Russen und sonstige Zuwanderer aus der Gemeinschaft aus. Dabei ist deren Anteil mit knapp 25 Prozent an der Gesamtbevölkerung nicht unerheblich.

Parteienlandschaft in Estland: EKRE verzeichnet bis 17 Prozent Stimmanteil – zu groß, um sie zu ignorieren

Im Gegensatz zu den großen Konfliktlinien im Parteiensystem in Polen* ist die estnische Parteienlandschaft gerade bei den Parteien der Mitte relativ ausgewogen und dialogorientiert. Die regierende Reformpartei, die mit der Zentrumspartei die aktuelle Regierung stellt, ist betont liberal. Die sozialdemokratische Zentrumspartei galt lange als Stabilisierungsfaktor, denn sie war bisher die bevorzugte Option für die russischstämmigen Wähler. Sie geriet aber in eine Korruptionsaffäre und verlor die Regierungsführung im Januar dieses Jahres.

Seit 2018 ist auf dem linken Flügel des Parteienspektrums Estonia 200 aktiv. Markant für diese Partei ist insbesondere die Vorsitzende Kristina Kallas. Sie stammt aus Narwa, wo bis zu 95 Prozent der Bevölkerung russischstämmig sind. Kallas‘ Mutter ist gebürtige Russin. Kallas selbst tritt überzeugend für die Integration der Russischstämmigen in die estnische Gesellschaft und ein gutes Zusammenleben ein.

Die EKRE manövriert innerhalb des estnischen Parteiensystems mit einigen Geschick. Die beiden Parteien der Mitte brauchen Koalitionspartner für Regierungsmehrheiten. Mit ihren zuletzt 15 bis 17 Prozent der Wählerstimmen kann die EKRE bei den Koalitionsgesprächen nicht abseits stehen, dafür ist ihr Stimmenanteil schlicht zu groß. Im Frühjahr 2019 schaffte sie es sogar in die Regierung unter der Führung des Zentrumpolitikers Jüri Ratas. Der Parteichef der EKRE, Martin Helme, war bis Mitte Januar 2021 estnischer Finanzminister. Die Regierung trat aber nach dem Korruptionsskandal in der Zentrumspartei am 13. Januar zurück.

Estland: EKRE gewinnt zunehmend Russischstämmige – Familienmodell im Kreuzfeuer der Politik

Anfänglich konnte EKRE die Stimmen der enttäuschten Esten sammeln. Jetzt feiert sie weitere Erfolge dadurch, dass sie kurioserweise starke Stimmenzuwächse bei den russischstämmigen Wählern verzeichnet. Es erscheint auf den ersten Blick kaum möglich, dass EKRE, die Russischstämmige nicht als Teil der estnischen Gesellschaft betrachtet, von eben dieser Wählergruppe verstärkt gewählt wird.

Dieser scheinbare Gegensatz ist möglich geworden, da EKRE zwei wichtige Schnittmengen mit einigen Strömungen unter den russischstämmigen Einwohnern hat. Viele Russischsprachige werden von den russischen Medien beeinflusst, da sie sich über das russische Staatsfernsehen und sonstige staatlich gelenkte russische Medien informieren. Dort mangelt es nicht an Berichten, die die Coronapolitik* der Europäischen Union und die Impfkampagnen in den EU-Mitgliedsstaaten kritisierten und verunglimpfen. Dementsprechend stehen viele ethnische Russen in Estland der staatlichen Coronapolitik skeptisch gegenüber. Die Proteste gegen die Coronamaßnahmen* und die Kritik der EKRE an den Impfaufrufen der Regierung kamen diesen kritischen Einstellungen der Russischstämmigen sehr entgegen.

Ein weiterer und womöglich viel wichtigerer Faktor ist die in Estland geführte Debatte um das bevorzugte Familienmodell. Auch hier trifft die EKRE mit ihren homophoben, patriarchalischen und frauenfeindlichen Äußerungen den Nerv vieler russischsprachiger Bürger, die ihre Ansichten zum traditionellen Familienbild dem russischen Staatsfernsehen entnehmen. Der Begriff „Gayropa” wird dort seit Jahren als Horrorvorstellung und Zeichen des moralischen Verfalls des Westens verwendet. (Aleksandra Fedorska) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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