Experte prophezeit nach Johnson-Sieg den Brexit-„Schock“ - UK vor dem Zerfall?
Boris Johnson ist der große Sieger der britischen Unterhauswahl - und mit ihm der Brexit. Doch Experten warnen: Die schlimmsten Brexit-Krisen könnten noch bevorstehen.
- Boris Johnson ist der Gewinner der britischen Unterhaus-Wahl.
- Der Premier sieht in seinem Erfolg ein „kraftvolles“ Signal für den Brexit.
- Doch Johnson und dem UK könnten auch jetzt noch heftige Probleme auf dem Weg zum EU-Austritt bevorstehen.
London - Boris Johnsons Tories haben die Unterhaus-Wahlen spektakulär gewonnen. Ein Ergebnis, das viele Beobachter nicht zuletzt als klares Votum für einen schnellen Brexit sehen. Doch ob es tatsächlich so kommen wird - es steht in den Sternen. Bereits am Wahltag mangelte es nicht an düsteren Prognosen für den Fortgang des EU-Austritts. Und für das stolze Vereinigte Königreich könnte der Prozess ohnehin noch völlig unabsehbare Folgen haben.
Wahlen in Großbritannien: Experte prophezeit nach Johnson-Sieg den Brexit-“Schock“
„Get Brexit Done“ - den Brexit erledigen. Das war Johnsons Mantra im Wahlkampf. Er hat seine Landsleute damit für sich gewonnen. Mit dem Erdrutsch-Sieg bei der Wahl am Donnerstag kann Johnson das Land am 31. Januar zu den Bedingungen seines Austrittsabkommens aus der Europäischen Union führen. Doch aus der EU austreten und den Brexit erledigen - das sind zwei verschiedene Dinge, wie Politikwissenschaftler und Handelsexperten immer wieder betonen. Wie der Brexit am Stichtag abläuft, lesen Sie in unserem aktuellen News-Ticker zum EU-Austritt Großbritanniens.
„Die Wahrheit sieht anders aus und könnte für die Leute ein Schock werden“, erklärte Politikprofessor Anand Menon vom Londoner King's College kurz vor der Wahl in einem Video auf seinem Twitter-Account. „Das wird kein Ende des Prozesses, es wird der Anfang von Handelsgesprächen, die versprechen, lange, zäh und bitter zu werden.“
Im März gibt es in Großbritannien ganz andere Probleme: Der Ernst der Corona-Pandemie wurde erkannt - und es gibt große Vorwürfe an Boris Johnson.
Brexit: Nach der Wahl - steht die „größte Krise“ noch bevor?
Ähnlich sieht es Ivan Rogers, der ehemalige britische Chefdiplomat in Brüssel. Er warnte in einer Rede an der Universität Glasgow kürzlich, die größte Krise in Sachen Brexit stehe Großbritannien noch bevor.
Tatsächlich regelt der „fantastische“ und „ofenfertige“ Brexit-Deal, wie Johnson gerne schwärmt, nichts anderes als den geordneten Austritt Großbritanniens und eine Übergangsphase bis Ende 2020. Sonst nichts. Wie das Land nach dem Brexit mit seinen wichtigsten Partnern Handel treibt und zusammenarbeitet, ist nur in Grundzügen in einer unverbindlichen politischen Erklärung angerissen.
Im Detail muss das im Laufe des kommenden Jahres geregelt werden. Die Bundesregierung gibt sich zwar optimistisch, ein Standard-Handelsabkommen sei machbar, hieß es am Mittwoch aus Regierungskreisen. Doch das Problem ist, dass Johnson, der in Großbritannien vor allem für seine Skandale* bekannt ist, dafür Ziele ausgegeben hat, die nicht zu vereinbaren sind.
Brexit: Wahl-Triumph für Johnson, doch sogar im Ministerium gibt es Sorgen
Einerseits will er zoll- und abgabenfreien Handel mit der Europäischen Union, auf der anderen Seite hält er nichts von einer engen Bindung an EU-Regeln, beispielsweise wenn es um Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards und staatliche Wirtschaftsförderung geht. Beides, da sind sich Experten sicher, wird aber nicht zu haben sein.
Warum sollte Brüssel einem Handelspartner vor der eigenen Haustüre weitgehenden Zugang zum eigenen Markt geben, wenn der nicht garantiert, dass er sich an die Spielregeln eines fairen Wettbewerbs hält? Zudem entscheidet nicht Brüssel allein, das Abkommen wird von allen 27 nationalen und womöglich auch einigen regionalen Parlamenten abgesegnet werden müssen.
Selbst die Beamten im britischen Brexit-Ministerium haben Zweifel, ob genug Zeit bleibt, um die vereinbarten Regelungen für Nordirland umzusetzen, wie ein an die Presse durchgesickertes Regierungsdokument beweist.
Brexit: Wie macht Johnson weiter?
Ein Ausweg könnte eine Verlängerung der Übergangsfrist um bis zu zwei Jahre sein. In der Übergangsphase bleibt alles beim Alten, Großbritannien wird weiterhin EU-Regeln unterworfen sein, Beiträge zum Haushalt zahlen, aber kein Mitspracherecht in den Gremien der Staatengemeinschaft mehr haben. Die Verlängerungsoption ist aber nur bis Ende Juni verfügbar und es dürfte Johnson schwerfallen, nach all dem Getöse vom „Kettenabwerfen“ und dem Rückgewinn der Souveränität diesen Weg zu gehen.
Das bedeutet, Großbritannien bewegt sich wieder auf einen Klippenrand zu, hinter dem erhebliche Handelsbarrieren drohen. Oder der Premierminister vollzieht unerwartet eine Kehrtwende und sucht eine deutlich engere Bindung an Brüssel als seine vollmundigen Ankündigungen bislang erwarten ließen. In Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten dürften viele heimlich darauf hoffen.
Brexit: Schottland könnte den Austritt ins Augen fassen - „dann wird es knallen“
Doch es könnte noch schlimmer kommen. Die Frage der schottischen Unabhängigkeit könne nach dem Brexit „wieder auf dem Tisch liegen“, sagte die Politikwissenschaftlerin Anna-Lena Högenauer am Wahlabend im TV-Sender Phoenix.
Denkbar sei ein heikler Konflikt: Die ebenfalls am Wahlabend enorm gestärkte schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon (SNP) werde wohl ein Unabhängigkeitsreferendum einfordern, Boris Johnson mit Blick auf seine überwiegend englischen Wähler ein solches verweigern. „Dann wird es knallen“, prophezeite Högenauer.
Die wichtigsten Informationen von A bis Z zum Brexit finden Sie in diesem Artikel. Am Donnerstag, 9. Januar, stimmt das britische Unterhaus über Johnsons Brexit-Deal ab. Eine erschreckende Erkenntnis hat eine Abgeordnete der Brexit-Partei gewonnen - der Spott ließ nicht lange auf sich warten. Offen ist auch auf anderen Feldern die Frage, ob die Briten die gewünschte Souveränität voll auskosten können und wie der EU-Austritt auf andere Länder wirkt. Der Brexit ist da: Großbritannien tritt aus der Europäischen Union aus. So wird sich der Brexit auf den deutschen Arbeitsmarkt auswirken.
dpa/fn
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