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Flüge, Benzinpreise, „Jedermannsrecht“: Das steht wirklich im Grünen-Wahlprogramm für die Bundestagswahl

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Von: Florian Naumann

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Was steht im Wahlprogramm der Grünen?
Was steht im Wahlprogramm der Grünen? © Hannes P. Albert via www.imago-images.de

Die Grünen haben sich vor der Bundestagswahl 2021 mit ihren Wahlkampf-Forderungen eine blutige Nase geholt. Doch nicht alle kolportierten Forderungen stehen im Wahl-Programm. Dafür beinhaltet es weiteren Zündstoff.

Berlin – Eine gute Strategie ist im Wahlkampf Trumpf. Ob die der Grünen aufgeht? Die Partei schoss mit der Kür Annalena Baerbocks zur Kanzlerkandidatin im Mai durch die Umfrage-Decke - und sank kurz darauf schon wieder ab. Ein Mitgrund könnten die Wahlforderungen der Partei sein: Lange vor der Union stellte die Partei ihr Programm zur Bundestagswahl 2021 vor. Gerade das bot aber Angriffsfläche - just die Klima-Forderungen fielen den Grünen eher auf die Füße. Selbst wenn Baerbock und Co. (ebenso wie andere Beobachter) stets auf Ausgleichsmechanismen verwiesen. (Wahldaten, Liveticker, Hintergrundberichterstattung - alle Infos rund um die Bundestagswahl 2021 bekommen Sie in unserem Politik-Newsletter.)

Womöglich gibt es diesen Zoff auch, weil kaum jemand das Programm gelesen hat: 136 Seiten ist die Agenda der Grünen stark. Zum Vergleich: Die SPD kommt mit 66 Seiten aus - allerdings wesentlich enger beschriebenen. Neben einigen Schwammigkeiten und Rückziehern findet sich auch viel Detailarbeit in der Wahlkampfbibel. „Pflanzliche Milchalternativen sollen steuerlich mit Milchprodukten gleichgestellt und mit dem reduzierten Mehrwertsteuersatz verkauft werden“, ist da etwa zu lesen. Andererseits aber auch eine Abrechnung mit Ära Angela Merkel: „Reaktive Politik hat die letzten Jahre über das Schlimmste verhindert. Aber es geht darum, das Beste zu ermöglichen“, heißt es in der Einleitung.

Zeit für einen genaueren Blick auf das Grünen-Wahlprogramm. Auch, wenn offen ist, ob die Partei noch einmal nachschärft: Von mehr als 3000 Änderungsanträgen haben es immerhin 20 auf den finalen Parteitag geschafft. Sprengstoff, etwa beim Thema CO2-Preis, inklusive. Andere Forderungen, wie der nach einem Ganztags-Anspruch für Grundschüler, hat die GroKo bereits selbst abgeräumt.

Grünen-Wahlprogramm und Streitthema Klimakosten: Gleicher Plan wie die GroKo, nur schneller - Energiegeld soll abfedern

Auch Merkels GroKo hat eine Erhöhung des CO2-Preises vorgesehen. Die Grünen wollen vor allem schneller sein: „Wir wollen die Erhöhung des CO2-Preises auf 60 Euro auf das Jahr 2023 vorziehen“, schreiben sie. Nicht ohne weiteres korrekt ist der häufig geäußerte Vorwurf, die Partei wolle so Geringverdiener im Regen stehen lassen. Ein „Energiegeld“ soll „alle Einnahmen“ an die Bürgerinnen und Bürger zurückgeben - und zwar gerechnet pro Kopf. Wer sich viel CO2-Verbrauch leistet, könnte so schlechter dastehen als Geringverdiener mit geringen Kosten.

Auch an weiteren Klimaforderungen mangelt es natürlich nicht. Der Kohleausstieg soll bereits 2030 (statt 2038) geschehen, in vier Jahren sollen eine Million neue Solardächer entstehen, in allen Bundesländern sollen zwei Prozent der Fläche dem Windkraftausbau gewidmet werden. Bei der Wärmesanierung wollen die Grünen einen wahren Geldsegen liefern. Ein „Klimawohngeld“ ist angedacht, bei Modernisierungen soll neben Mieter und Vermieter auch der Staat zahlen.

Wahlprogramm der Grünen beim Thema Verkehr: „Sicherheitstempo“ statt Tempolimit - kein Verbot für Kurzstreckenflüge

Das lange umstrittene Tempolimit 130 auf Autobahnen gehört weiter zum Grünen-Programm - nun aber unter dem vermeintlich unverfänglicheren Schlagwort „Sicherheitstempo“, wie auch schon bei Cem Özdemir zu hören war. Stützen will die Partei die Verkehrsmittel Fahrrad und Bahn, aber auch Wasserstraßen. Genannt wird ein „lückenloses Fahrradnetz für ganz Deutschland“, ein neuer „Mobilpass“ für 120 Verkehrsverbünde sowie Bahnfernverkehr für alle Großstädte. Auf dem Land sollen Bahn-Anschlüsse reaktiviert werden.

Kritischer ist die Linie beim Auto. Nicht „planfestgestellte“ Straßenbauprojekte sollen auf den Prüfstand, Autos in der Stadt nicht mehr „überall“ geparkt werden dürfen, ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zugelassen werden. Sogenannte ÖPP-Kooperationen beim Straßenbau - mit denen die CSU-Verkehrsminister schon kräftig danebengriffen - werden nach dem Willen der Grünen untersagt. Tatsächlich wollen Baerbocks Grüne auch Kurzstreckenflügen den Garaus machen. Allerdings nicht per Verbot: Die Kurzstrecke solle bis 2030 „durch Ausbau der Bahn“ „überflüssig“ werden, heißt es in dem bereits vor der großen Debatte veröffentlichten Programm.

Grüne, Natur und Landwirtschaft: „Rettet-die-Lebensmittelgesetz“ - und Mensa-Wünsche statt Verboten

Auch beim Naturschutz ist für die Grünen offenbar das Jahr 2030 entscheidend - auch, wenn es nicht mehr in die neue Legislaturperiode fällt. Bis dahin soll der Flächenverbrauch in Deutschland halbiert werden. Im Forderungskatalog in Sachen Umweltschutz findet sich zudem unter anderem ein Glyphosat-Verbot, die Ausweisung weiterer Schutzgebiete und der Wunsch nach zwei Prozent „echter Wildnis“ im Land.

Beim Thema Ernährung verzichten die Grünen auf Veggie-Day-Experimente. Förderung statt Verbot heißt offenbar die Devise. So sollen „Mensen, Kantinen oder Schulen“ „mehr nachhaltiges, gesundes und regionales Essen anbieten“. Weitere Maßnahmen-Wünsche: Ein „Rettet-die-Lebensmittel-Gesetz“, ein „Tierschutz-Cent“ als Abgabe auf tierische Produkte und Stütze für den Aufbau von tiergerechten Ställen und ein Umbau der Landwirtschafts-Subventionen hin zu einer „Gemeinwohl-Prämie“. Bis 2028 soll es für die Hälfte der Gelder eine „ökologische Zweckbindung geben“.

Grüne Wirtschaftspläne: Gründungskapital 25.000 Euro - und eine Frauenquote

Bereits kurz nach ihrer Nominierung betonte Kanzlerkandidatin Baerbock: Die Grünen wollen investieren. Sie schreiben von einem „Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen“ - auch Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet hat ein „Modernisierungsjahrzehnt“ auf dem Zettel. Die Ökopartei sieht Deutschland im Wettbewerb vor allem mit USA und China. Sie will 50 Milliarden Euro pro Jahr ausgeben, beispielsweise für Forschung, schnelles Internet, Ladesäulen-Infrastruktur oder die Bahn.

In den Fokus der Förderung sollen laut Wahlprogramm nach Corona auch Gastronomie, Tourismus, Kultur und Einzelhandel rücken. Eine plakative Idee: Wer ein Gewerbe gründen will, soll - „unbürokratisch“ - 25.000 Euro Gründungskapital und Unterstützung von einer zentralen Anlaufstelle erhalten. Zugleich sollen Meisterbriefe kostenfrei erworben werden können, ausländische Bildungsabschlüsse besser anerkannt werden - und eine Frauenquote von 33 Prozent in den Vorständen „größerer und börsennotierter Unternehmen“ kommen. Ein eher ungewöhnlicher Tourismusplan der Grünen: Ein „Jedermannsrecht in öffentlichen Gebieten“ nach skandinavischem Vorbild soll „Natur für alle erlebbar machen“.

An anderer Stelle sollen der Wirtschaft auch gewisse Fesseln angelegt werden. Angedacht ist von der Partei etwa ein „Recht auf Reparatur“, eine Online-Kündigung im Ein-Klick-Verfahren. Mit Blick auf den Wirecard-Skandal wollen die Grünen eine „Finanzaufsicht mit Zähnen“. Und generell einen neuen Kurs für die Banken im Land. „Boring Banking“ statt Spekulationen formulieren sie als Ziel. Insgesamt wünschen sich die Grünen einen anderen Blick auf das Wirtschaften: Ein „Jahreswohlstandsbericht“ soll statt karger Wirtschaftszahlen auch Einkommensverteilung und Bildung berücksichtigen.

Bundestagswahl: Steuern erhöhen? Das planen die Grünen

Steuer-Wohltaten wollen die Grünen von Baerbock und Co-Chef Robert Habeck nicht versprechen. Angesichts der Corona-Kosten müssten alle Änderungen im Steuerrecht „mindestens aufkommensneutral sein“, heißt es. Also wird umgeschichtet: Mit einem höheren Grundfreibetrag bei der Einkommenssteuer sollen kleinere und mittlere Einkommen entlastet werden. Dafür wollen die Grünen einen höheren Spitzensteuersatz: 45 Prozent ab 100.000 Euro, 48 Prozent ab 250.000 Euro Einkommen - für Paare jeweils ab dem doppelten dieses Wertes gültig. Bei Kapitalerträgen soll künftig nicht mehr pauschal sondern „progressiv“ besteuert werden. Den Ländern möchte die Partei eine Vermögenssteuer ermöglichen - in Höhe von einem Prozent ab zwei Millionen Euro. Sonderregeln für Betriebsvermögen soll es geben.

Rente, Arbeit und Hartz IV: Die Pläne der Grünen

Auch zu zwei Reizthemen haben die Grünen zumindest vage Pläne gefasst: Die Rente soll im Wesentlichen bleiben, wie sie ist - ab 67 Jahren und auf einem Niveau von 48 Prozent. Darumherum wünscht sich die Öko-Partei aber Änderungen. Statt der Riester-Rente soll es einen Bürgerfonds geben, in den alle einzahlen, die nicht aktiv widersprechen - und der Wirtschaft zugleich Investitionskapital beschert. Abgeordnete und „anderweitig nicht abgesicherte Selbstständige“ sollen in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen werden - es handle sich um einen „ersten Schritt zu einer Bürgerversicherung“; offenbar allerdings ohne sich mit Beamten und Berufsständen wie Ärzten oder Architekten anzulegen.

„Bürgerversicherung“ ist auch das Stichwort für Kranken- und Pflegeversicherung. Hier ist der größere Wurf angedacht: Beamte, Selbstständige, Unternehmer und Abgeordnete sollen einkommensabhängig in beide Kassen einzahlen. Die GroKo hatte zuletzt ebenfalls bei der Pflegeversicherung justiert, dafür aber Kritik erhalten.

Für Angestellte sind Wohltaten angedacht. Der Mindestlohn soll sofort auf 12 Euro steigen, eine sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen verboten werden. Hartz IV wollen die Grünen „überwinden“ - durch eine „Garantiesicherung“. Sanktionen sollen wegfallen, die Regelsätze „schrittweise“ steigen. Konkrete Zahlen nennt die Partei aber nicht (mehr). Das war einigen internen Kritikern übel aufgestoßen. Eine „Grundsicherung“ wünschen sich die Grünen unterdessen auch für Studenten und Azubis. Profitieren sollen alle aus diesem Personenkreis. Neben einem „Garantiebetrag“ soll es einen „Bedarfszuschuss“ für Menschen aus „einkommensarmen Elternhäusern“ geben.

Migration in Deutschland: Der Wunschzettel aus dem Grünen-Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2021

Geht es nach den Grünen, werden einige Restriktionen im Asyl-, Einwanderungs- und Migrationsrecht fallen. Wer fünf Jahre lang in Deutschland lebt, soll einen Antrag auf Einbürgerung stellen können, ist etwa zu lesen. Auch doppelte Staatsbürgerschaften wollen die Grünen wieder ermöglichen. Ein weiterer gewichtiger Punkt: Per Einwanderungsgesetz möchte die Partei Zugang für „Bildungs- und Arbeitsmigration“ schaffen, auch im „gering- und unqualifizierten Bereich“. Ziel ist eine „punktebasierte Talentkarte“, die auf den jährlichen Arbeitskräftebedarf Rücksicht nimmt.

Beim Thema Asyl sieht das Programm Erleichterungen vor. Arbeitsverbot und pauschale Wohnsitzauflagen sollen fallen, kostenlose Sprachkurse ein Recht werden. Zugleich sollen auch Menschen mit subsidiärem Schutz ihre „Kernfamilie“ nachholen können - und sich Bundesländer ohne Zustimmung aus Berlin für die Aufnahme von Geflüchteten entscheiden können. Zugleich soll sich niemand mehr „von Duldung zu Duldung hangeln“ müssen - auch hier wollen die Grünen nach fünf Jahren ein „sicheres Bleiberecht“. Andererseits heißt es aber auch: „Menschen, die nach sorgfältiger Prüfung der asyl- und aufenthaltsrechtlichen sowie nach Ausschöpfung aller Rechtsschutzmöglichkeiten kein Asyl bekommen und in ihrem Herkunftsland nicht gefährdet sind, müssen zügig wieder ausreisen.“

Grüne-Forderungen für die internationale Politik: Wahlprogramm äußert sich konkret zu China, Türkei und Russland

Annalena Baerbock hatte mit vergleichsweise harten Äußerungen Richtung Russland von sich reden gemacht. Das Wahlprogramm deckt diesen Kurs. Russland wandle sich zunehmend in einen autoritären Staat und untergrabe „immer offensiver Demokratie und Stabilität in der EU“, heißt es. Die Oppositionsbewegung wollen die Grünen stützen - und die Pipeline Nordstream2 stoppen. Kritische Worte gibt es in Richtung der Türkei von Recep Tayyip Erdogan. Eine klare Forderung gibt es auch hier: „Der bestehende EU-Türkei-Deal untergräbt internationales Asylrecht, ist gescheitert und muss daher beendet werden.“ Ersetzen soll ihn ein neues, völkerrechts- und rechtsstaatskonformes Abkommen.

Im Falle Chinas liest sich der Kurs etwas ambivalenter. „Wir verlangen von China ein Ende seiner eklatanten Menschenrechtsverletzungen etwa in Xinjiang und Tibet und zunehmend auch in Hongkong“, schreiben die Grünen in ihrem Programm. Dennoch brauch es „einen konstruktiven Klima-Dialog mit China und wir streben gemeinsame politische, wirtschaftliche und technologische Anstrengungen zur Bekämpfung der Klimakrise an“. Einen ähnlichen Kurs fährt auch die Bundesregierung Merkel.

Kaum mit dem Programm kompatibel scheint übrigens der zwischenzeitliche Vorstoß von Parteichef Robert Habeck für Lieferung von „Defensivwaffen“ an die Ukraine. Nicht nur „Exporte von Waffen und Rüstungsgütern an Diktatoren, menschenrechtsverachtende Regime“, sondern auch „in Kriegsgebiete verbieten sich“, steht im Wahlprogramm geschrieben.

Doch die Grünen bereiten ihre Wähler ohnehin auf etwaige Konflikte zwischen Anspruch und Wirklichkeit vor: „Wir können nicht versprechen, dass jedes einzelne Projekt genau so Wirklichkeit wird. Wir können nicht versprechen, dass niemand durch Klimaschutz belastet wird. Wir können nicht versprechen, dass nach Corona jedes unserer Projekte noch finanzierbar ist“, räumen sie ein.

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