Warnung aus den USA: „Ja, Biden hat gewonnen - aber es ist und bleibt Trumps Amerika“

Viele hielten Trumps Sieg 2016 für einen Zufallstreffer. Das kann nun niemand mehr behaupten: Es bleiben „Trumps USA“, meint der Chefredakteur des Magazins „Foreign Policy“ in diesem Beitrag.
- Donald Trump hat die US-Wahl verloren - doch der scheidende Präsident wird wohl nicht von der Bildfläche verschwinden.
- Der Ausgang des Rennens gegen Joe Biden zeigt: Die Wahl 2016 war kein Zufallstreffer, im Gegenteil.
- Die Vereinigten Staaten werden wohl weiterhin „Trumps USA“ bleiben, kommentiert der Chefredakteur des Magazins Foreign Policy, Jonathan Tepperman.
- Dieser Artikel liegt erstmals in deutscher Sprache vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn am 4. November das Magazin Foreign Policy.
Washington - Erst nach tagelangem Hin und Her bei den Stimmenauszählungen und aufwühlender Ungewissheit gab es endlich ein Ergebnis – zumindest annähernd. Joe Biden hat genügend Stimmen im Electoral College gewonnen, um der nächste Präsident der USA zu werden.
So chaotisch die Woche rund um die Wahl auch war – mit Autokolonnen wie bei Mad Max, dem klaren Scheitern der Umfragen und diversen unbegründeten Siegeserklärungen von Präsident Donald Trump –, es wäre ein Fehler, durch den ganzen Tumult und die juristischen Rangeleien eine der wichtigsten Erkenntnisse dieses Präsidentschaftsrennens aus den Augen zu verlieren: wie nahe Trump einem Sieg gekommen ist. Die Wahl brachte nicht das von vielen Experten prophezeite klare Ergebnis zugunsten Bidens, sondern war durchaus knapp.
Trump: Fast die Hälfte der US-Wähler entscheidet sich für einen weißen Nationalisten und chronischen Lügner
Das wirft die Frage auf, was der Wahlausgang tatsächlich für das Land bedeutet, abgesehen von der Antwort auf die Frage, wer der nächste Präsident wird. Als mögliche Erklärungen für Trumps unerwartet starken Endspurt führten die Experten die Lockdown-Ermüdung der Wähler an, oder deren Wertschätzung seiner vermeintlichen Wirtschaftserfolge – zumindest bis die Pandemie sie zum Einsturz brachte.
Aber diese rationalen Aspekte sind nur ein Teil der Wahrheit. Vor allem sind sie keine Erklärung dafür, dass nach vier Jahren voller Skandale, Korruption und Misserfolg um Misserfolg noch immer fast die Hälfte aller US-Wähler einen autoritären, weißen Nationalisten und chronischen Lügner gutheißt, der die schwerste Gesundheitskrise des Jahrhunderts spektakulär verbockt hat.
Trumps Brutalität, Rassismus und Sexismus, seinen Mangel an Neugierde und Wissen über die Regierung und die Welt, seine Verachtung für traditionelle amerikanische Werte wie Fairness, Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit, seinen Eifer, Kontrollinstitutionen im In- und Ausland einzureißen – Institutionen, die zwar nicht fehlerfrei sind, aber über die Jahre so viel Frieden und Wohlstand geschaffen haben – all das haben die Wähler entweder wissentlich ignoriert oder bereitwillig akzeptiert. Im Jahr 2016 stimmten einige Republikaner für Trump, weil sie nicht viel über ihn wussten oder weil sie hofften, dass die Verantwortung des Amtes ihn in einen Staatsmann verwandeln würden.
Das kann heute niemand mehr behaupten. Wir alle wissen jetzt nur zu gut, wer Trump ist.
Trumpismus in den USA - Wahl zeigt: 2016 war kein Zufallstreffer
Nimmt man dazu noch die Tatsachen, dass Trump dieses Mal rund sieben Millionen Stimmen mehr gewonnen hat als 2016, dass er seinen Stand bei den Latinos und den Schwarzen verbessert hat und dass die Republikanische Partei durchaus ihre Mehrheit im Senat halten könnte, bleibt nur noch eine Schlussfolgerung: 2016 war kein Zufallstreffer. Biden mag zwar die Wahl gewonnen haben, aber wir alle leben jetzt in Trumps Amerika.
Warum ich das sage? Nun, zunächst einmal bedeutet das starke Abschneiden von Trump und der Republikanischen Partei, dass Trump – Wahlniederlage hin oder her – nicht von der Bildfläche verschwinden wird und die Republikaner sich nicht gegen ihn wenden werden. Vor der Wahl schien Trumps Kontrolle über die Partei stetig zu schwinden. Immer mehr Republikaner argumentierten, wenn auch im Stillen, dass ihre Partei reformbedürftig sei und dass vier weitere Jahre Trump für sie den Untergang an den Wahlurnen bedeuten würden. Selbst hartnäckige Trump-Unterstützer wie Senator John Cornyn begannen, sich vom Präsidenten abzuwenden. Doch jetzt, da Trumps Unterstützer so gut abgeschnitten haben – besonders jene, die, wie Senator Lindsey Graham, ihrem Anführer nicht von der Seite gewichen waren – ist es schwer vorstellbar, dass viele Republikaner in absehbarer Zeit Trump und den Trumpismus aufgeben werden.
Trump wird auch nach der Abwahl bleiben - als Twitterer, Talkshow-Star oder Medienmogul
Mit seiner Partei und einem erheblichen Teil der Bevölkerung hinter sich wird ein bestärkter Trump – als faktischer Oppositionsführer, freiberuflicher Twitterer, Talkshow-Star oder Medienmogul – weiterhin ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Unterstützung auf sich ziehen. Die wird er dazu nutzen, die Demokraten zu tyrannisieren und zu untergraben, die Republikaner durch öffentliche Schmach dazu zu treiben, Biden in allen Aspekten Widerstand zu leisten, und die gleiche griesgrämige, kontrafaktische „Wir-gegen-die-Experten-und-alle-anderen“-Botschaft der letzten vier Jahre zu verbreiten.
Seine Rede vom Donnerstag nach der Wahl, gespickt mit grundlosen Behauptungen von Wahlbetrug und unzähligen Lügen, hat gezeigt, welchen Ton Trump auch weiterhin anschlagen wird. Wie Brad Parscale, der erste Wahlkampfmanager des Präsidenten bei dieser Wahl, der New York Times sagte: „Es ist ja nicht so, dass es seinen Twitter-Account oder seine Fähigkeit, einen Nachrichtenzyklus zu steuern, nun nicht mehr geben würde.“
Unterdessen werden die „Never Trumpers“ – ehemalige republikanische Funktionäre, die sich dem demokratischen Prozess, einer kompetenten Regierungsführung, der Bedeutung von Institutionen und zumindest einem Grundstock an nationaler Einheit verschrieben haben und die sich danach sehnen, die Partei zu reformieren – eine Randgruppe bleiben oder die Partei ganz verlassen.
US-Wahl 2020 wird „schwierige Zeiten“ nach sich ziehen
Und die Folgen für das Land werden verheerend sein. Gelingt es den Republikanern, den Senat zu halten – was wahrscheinlich ist –, wird die politische Lähmung der letzten vier Jahre anhalten. Selbst Präsidenten, die eine Mehrheit im Kongress hinter sich haben, schaffen es selten, mehr als ein oder zwei große Themen umzusetzen, bevor die nächste Zwischenwahl ansteht, bei der sie oft den Rückhalt im Parlament verlieren. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Präsident Biden, dem die volle Unterstützung des Kongresses fehlt, überhaupt so weit kommen wird – ganz gleich, wie gut er sich als Dealmaker macht.
Und damit ist klar, dass schwierige Zeiten vor uns liegen. Biden mag zwar versuchen, den Umgangston in Washington zu ändern, aber die Jahre der Präsidentschaft Barack Obamas haben gezeigt, dass trotz Bidens lebenslangem Engagement für ein konstruktives Miteinander beider Parteien und seiner immer noch vorteilhaften Beziehungen im Senat die Chancen auf Kompromissfähigkeit nahe Null sind, solange die Republikaner die Neinsager-Partei bleiben.
Ein „divided government“ – eine Regierung, in der die Partei des Präsidenten nicht die Mehrheit des Parlaments innehat – wird wahrscheinlich weitere Untätigkeit in Bezug auf riesige Probleme wie die Pandemie (obwohl Biden hier dank seiner Exekutivgewalt einige Verbesserungen erreichen könnte) und die Wirtschaft (wo er ohne den Kongress nicht viel ausrichten kann) mit sich bringen. Sollte es Biden nicht gelingen, wesentliche Pandemie-Hilfsprogramme und andere staatliche Ausgaben zu verabschieden, werden die Märkte ins Trudeln geraten und die finanzielle Instabilität wird zunehmen. Ohne ein koordiniertes Vorgehen aller Teile der US-Regierung wird die Pandemie noch viel schlimmer werden.
Donald Trump: USA werden ein „Land der sich selbst erhaltenden Dysfunktion“ bleiben - schlechte Karten für Biden
So wird Trumps Amerika – ein Land, das gerade seine beste Chance ausgeschlagen hat, ihm klar und deutlich den Laufpass zu geben – weiterhin ein Land der sich selbst erhaltenden Dysfunktion sein. Die Wut über das Versagen der Regierung, zu helfen, oder die Wut der Republikaner über die Versuche der Regierung, zu helfen, wird die ohnehin schon bedenkliche Polarisierung des Landes nur noch verstärken, die Chancen für eine Zusammenarbeit weiter verringern und möglicherweise zu Gewalt führen.
Bidens Ziel, die Spaltung der Nation zu heilen und so zu regieren, dass alle zusammenkommen, scheint jetzt sehr hoch gesteckt. Obamas Versuche, das Gleiche zu tun, schürten nur die Widerspenstigkeit der Republikaner und trieben einen großen Teil der Bevölkerung in das gefährliche Fantasieland des sogenannten Birtherismus (einer Verschwörungstheorie, die die Rechtmäßigkeit von Obamas Präsidentschaft anzweifelt, da dieser angeblich nicht in den USA geboren wurde) und anderer Verschwörungstheorien (von denen einige schließlich die QAnon-Bewegung hervorbrachten). Nun, da Trumps Ansatz mit all seiner Aussichtslosigkeit und Abscheulichkeit von einem großen Teil des Landes befürwortet wurde, ist es schwer vorstellbar, dass ein Präsident Biden es schafft, das Land zu heilen.
Aber es war gänzlich unvorstellbar, dass ein Präsident Trump dies auch nur versuchen würde.
Von Johathan Tepperman
Jonathan Tepperman ist der Chefredakteur der Zeitschrift Foreign Policy.
Dieser Artikel war zuerst am 4. November 2020 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern von Merkur.de zur Verfügung.
