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Kasachstan: Warum Russland bei den Ausschreitungen eingreift – und die Rolle der „Mini-Nato“

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Von: Anna-Katharina Ahnefeld

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Die Situation in Kasachstan eskaliert. Auf Bitten des Landes mischt sich ein von Russland geführtes Militärbündnis ein. Was treibt Putin an?

Almaty/Moskau – Der kasachische Staatschef Kassym-Schomart Tokajew musste nur rufen – und Russland eilte zur Hilfe. Seit Tagen erschüttern beispiellose Unruhen das Land, vor den Augen der Welt entfaltet sich ein regelrechtes Blutbad. Die Angst vor weiteren Eskalationen wächst stetig. Die bisherige Bilanz: Mehr als Tausend Verletzte, zahlreiche tote Protestierende, Polizisten und Soldaten. Angesichts der gewaltsamen Proteste hat das vom Kreml angeführte Militärbündnis OVKS erstmals auf Bitten Kasachstans eingegriffen. Doch was sind die russischen Motive? Wer steckt hinter der sogenannten „Mini-Nato“? Und warum erhebt sich das kasachische Volk?

Es war offenbar der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat: gestiegene Treibstoffpreise. Der Funken verwandelte sich rasch in einen Flächenbrand. Die Ausschreitungen schlugen in teils blutige Proteste gegen die autokratische Regierung um. Die Antwort des Staates ist Gewalt. Regierungschef Tokajew verhängte den Ausnahmezustand, lässt das Militär hart gegen die Proteste vorgehen und erteilte gar den Schießbefehl. Auch die sozialen Netzwerke und das Internet wurden zeitweise blockiert.

Die Demonstrierenden bezeichnete der Präsident als „bewaffnete Banditen“ und „Terroristen“. Und Wladimir Putin? Der russische Staatschef will offenbar unter allen Umständen verhindern, dass die Moskau-nahe Regierung in Kasachstan gekippt wird. Das Land gilt neben Belarus als eines der wichtigsten Verbündeten Russlands in der Region

Kasachstan: Warum Russland bei den Ausschreitungen eingreift – und die Rolle der „Mini-Nato“

„Wir betrachten die jüngsten Ereignisse in einem befreundeten Land als einen von außen inspirierten Versuch, die Sicherheit und Integrität des Staates auf gewaltsame Weise durch den Einsatz ausgebildeter und organisierter bewaffneter Formation zu untergraben“, ließ der Kreml verlauten. Die USA hatten Berichte über mögliche Verwicklungen zurückgewiesen.

Und so hat das von Russland angeführte Militärbündnis „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) bereits eine militärische Unterstützungsmission gestartet. Mit dem Einsatz verhindert das Bündnis einen Umsturz in Kasachstan. Nach Konflikten etwa in Belarus ist es das erste Mal, dass Moskau auf eine brenzlige Lage in einer Ex-Sowjetrepublik so reagiert. Das Bündnis sprach von insgesamt etwa 2500 ausländischen Soldaten, die die kasachischen Sicherheitskräfte unterstützen sollten. Die Allianz besteht aus sechs ehemaligen Sowjetrepubliken und gilt als eine Art „Mini-Nato“, ein 2002 gegründeter Gegenentwurf zum Nordatlantikpakt. Neben Russland und Kasachstan gehören der Allianz auch Kirgistan, Belarus, Armenien und Tadschikistan an.

Das Bild der Staatsagentur Tass zeigt russische OVKS-Friedenstruppen, die bei der Ankunft in Kasachstan aus einem der neun russischen IL-76-Militärtransportflugzeuge aussteigen
Das Bild der Staatsagentur Tass zeigt russische OVKS-Friedenstruppen, die bei der Ankunft in Kasachstan aus einem der neun russischen IL-76-Militärtransportflugzeuge aussteigen. © Russian Defence Ministry/dpa

Der ehemalige französische Soldat und Verteidigungsexperte Pascal Ausseur, der heute das Politikinstitut FMES leitet, bezeichnete der Nachrichtenagentur Agence France-Presse zufolge das Bündnis als „ein Relikt des Warschauer Paktes“ aus der Zeit des Kalten Krieges. Die OVKS sei eine „Mini-Nato“, in der Russland die Stellung der USA einnehme. Ausseur hält die Entsendung einer OVKS-Truppe nach Kasachstan für „eine Möglichkeit, den Anschein einer Intervention aller Kaukasus-Länder - und nicht nur Russlands - zu erwecken“. Die implizite Botschaft aus Moskau lautet seiner Meinung nach: „Ich räume mein eigenes Chaos auf, ich führe eine Organisation, die Bodentruppen stellen kann. Ich habe hier zu Hause das Sagen, in meinem eigenen Revier“.

Gerade mit Blick auf den anderen Krisenherd, der Ukraine, ist das entscheidend. Denn nichts käme Putin ungelegener, als eine zweite Situation wie in der Ukraine.

Russlands Eingreifen in Kasachstan: Einmarsch des Militärbündnisses in kürzester Zeit beispiellos

Dass der Einmarsch des Militärbündnisses binnen Stunden zustande kam, gilt als beispiellos in der Geschichte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Gerade erst feierte Kasachstan 30 Jahre Unabhängigkeit von Moskau. Nun dankt Tokajew der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit für ihre Hilfe.

Der in Almaty lebende Politologe Marat Schibutow sieht laut Deutscher Presse-Agentur die Unruhen als Ergebnis großer wirtschaftlicher Probleme und Armut. „Bei uns kann nicht einmal derjenige, der ständig arbeitet, seinen Lebensunterhalt bestreiten“, schreibt er in seinem Blog bei Telegram. Der Ärger über die Verdopplung der Preise für Flüssiggas, das als Treibstoff für Autos dient, sei nur Auslöser der Proteste. Angesichts der hohen Gaspreise auf dem Weltmarkt sei der Rohstoff an das Ausland verkauft worden, im Land entstand ein Defizit. Deshalb seien die Aufständischen zunächst in vielen Städten unterstützt worden. Zwar sind die Preise für Verbraucher wieder gesenkt worden, doch die Proteste haben sich politisiert.

Nach dem Hilferuf Tokajews prägen gepanzerte Fahrzeuge und Uniformierte das Bild, wie Videos in sozialen Netzwerken zeigen. Die verfassungsmäßige Ordnung sei wieder hergestellt, verkündete der Staatschef am Freitag. Dieser Militäreinsatz sei ein Kurswechsel im postsowjetischen Raum, meint der russische Politologe Fjodor Lukjanow. Unter dem Vorwand einer Bedrohung der staatlichen Sicherheit von außen sei hier ein „Präzedenzfall“ für einen Einmarsch geschaffen worden.

Kasachstan: Putin demonstriert dem Westen seine Macht

Aus russischer Sicht sei es neuerdings offenbar zulässig, sich allein aus der Motivation eines Machterhalts heraus einzumischen, wenn die Sicherheit eines Landes auf dem Spiel stehe, kommentiert Lukjankow. „Die russische Führung hat sich entschieden, nicht zu warten, bis die Flammen voll ausschlagen, sondern zu handeln.“ Tokajew begibt sich aus Sicht von Beobachtern nun in Abhängigkeit von Putin. Der Kremlchef sieht das rohstoffreiche Kasachstan seit langem als seinen Einflussbereich - und will etwa eine Zurückdrängung der russischen Sprache oder eine Ansiedlung von US-Militär verhindern. In Kasachstan liegt auch der russische Weltraumbahnhof Baikonur. Putin habe jetzt dem Westen seine Macht demonstriert, sagt Lukjanow auch mit Blick auf seine jüngsten Forderungen an die Nato, sich von Russland fernzuhalten, weil es sich von der Allianz bedroht sehe.

„Russland hat hier seine Fähigkeit gezeigt, schnelle und unerwartete Entscheidungen in der militärisch-politischen Sphäre zu treffen und auf Geschehnisse in für sie wichtigen Teilen der Welt einzuwirken“, sagt Lukjankow. Derweil sind die Sorgen im Westen groß, dass Russland nach der Hilfe für „Diktator“ Lukaschenko in Belarus nun durch den Rückhalt Tokajews seinen Einfluss auch in Kasachstan ausbauen könnte. Westliche Befürchtungen, Putin wolle die Sowjetunion neu errichten, weist der Kreml allerdings immer wieder kategorisch zurück. (aka mit dpa und AFP)

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