Lindner sagt das vor dem Hintergrund der „kalten Progression“, deren Effekte die Menschen immer deutlicher spüren: Die hohe Inflation frisst Lohnerhöhungen in vielen Fällen auf. Weil die Arbeitnehmer aber in absoluten Zahlen mehr verdienen, rutschen sie im Zweifel in den nächsten Steuersatz. Sie müssen also mehr Steuern zahlen, ohne dass ihre Kaufkraft gestiegen wäre. Lindner will dem entgegenwirken.
Konkret soll der Grundfreibetrag erhöht werden, also jener Teil des Einkommens, der steuerfrei ist. Er liegt bei 10 347 Euro und soll im nächsten Jahr auf 10 632 Euro (ab 2024 auf 10 932 Euro) steigen. Die Anpassung ist rechtlich so vorgesehen, allerdings will Lindner auch die anderen Grenzwerte verschieben, bis hin zum Spitzensteuersatz von 42 Prozent. Derzeit fällt er ab einem Einkommen von 58 597 Euro an, ab 2023 soll die Grenze bei 61 972 Euro liegen, ab 2024 bei 63 515 Euro. Einzig den Reichensteuersatz (45 Prozent ab 277 826 Euro) will Lindner unangetastet lassen. Anders als seinerzeit sein Amtsvorgänger –Kanzler Olaf Scholz –, wie Lindner extra betont.
Die wenig subtile Spitze deutet an, dass der Plan des Finanzministers selbst in der eigenen Regierung umstritten ist. Vor allem die Grünen hadern. Fraktionsvize Andreas Audretsch sagte etwa, dass Topverdiener „dreimal so stark profitieren wie Menschen mit kleinen Einkommen“. Auch SPD-Fraktionsvize Achim Post forderte Nachbesserungen, etwa Direktzahlungen an Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen. Linken-Finanzexperte Christian Görke nannte Lindners Pläne einen „Witz“, die unteren 70 Prozent der Bevölkerung gingen fast leer aus. Auch der Ökonom Marcel Fratscher übt Kritik. Lindners Gesetzesentwurf setze die falschen Prioritäten, weil er Geringverdiener kaum entlaste, obwohl sie die Inflation am stärksten spürten.
Lindner lässt das nicht gelten. Am Mittwoch spricht er immer wieder von der „breiten Mitte der Gesellschaft“, die profitiere. Wer recht hat, ist Auslegungssache. In absoluten Zahlen fällt für Geringverdiener wirklich kaum etwas ab, wie Rechnungen zeigen, die der Steuerexperte Frank Hechtner von der Uni Erlangen-Nürnberg für das Handelsblatt erstellt hat. Wer als kinderloser Single unter 1000 Euro verdient, profitiert demnach gar nicht. Auch alleinerziehende Geringverdiener würden kaum entlastet, weil sie wenig bis gar keine Einkommensteuer zahlen. Je höher das Einkommen, desto höher die mögliche Entlastung.
Das Bild ändert sich, wenn man, wie Lindner, die absolute Entlastung ins Verhältnis zum Steueraufkommen setzt. Prozentual gesehen werden Alleinerziehende mit unter 1000 Euro brutto laut Hechtner mit 36 Prozent besonders entlastet, solche mit 7500 Euro nur mit zwei Prozent. Lindner gibt die Entlastung im Schnitt mit 193 Euro pro Jahr an. Er argumentiert zudem, wer wenig Geld habe, werde anders unterstützt, durch die geplante Wohngeldreform etwa.
Zum Plan gehört auch eine Erhöhung des Kindergelds um maximal acht Euro pro Kind. Der Kinderfreibetrag, der hohe Einkommen begünstigt, soll ebenfalls steigen. Ob die Pläne so durchgehen, ist angesichts des Gegenwinds aber ungewiss.