Mauerfall vor 30 Jahren: Dramatische Tage in BRD-Botschaft in Prag - Münchner erinnert sich

Den Herbst 1989 wird der ehemalige Botschafter und Diplomat Michael Steiner nie vergessen. Als der Münchner im Juni 1989 seinen Posten als Pressesprecher der Deutschen Botschaft in Prag antritt, ahnt er nicht, dass sich im Herbst dieses Jahres die Weltgeschichte ändern wird.
- 7000 Menschen lebten kurz vor dem Mauerfall in der BRD-Botschaft in Prag.
- Der Münchner Michael Steiner war als Sprecher der Botschaft mittendrin.
- Erst Ende November kehrte wieder Normalität in dem Gebäude ein.
München - Als im Jahr 1989 Geschichte gemacht wird, ist der Münchner Michael Steiner hautnah dabei. In der Botschaft der Bundesrepublik in Prag treffen in diesem Sommer tausende Hilfesuchende ein, die in dem Palais auf ihre Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik warten - und damit einen entscheidenden Beitrag zum Ende des SED-Regimes leisten.
Mauerfall vor 30 Jahren: Botschaft der Bundesrepublik in Prag wird „zu einer Art Jugendherberge“
„Als ich meinen Dienst antrat, waren bereits ca. 50 Ausreisende an der Botschaft. Innerhalb kürzester Zeit jedoch, mussten wir mehr als 7000 Menschen unterbringen. Wir wurden zu einer Art Jugendherberge“, erinnert sich Steiner.
Die dramatischen Szenen, die sich damals abspielten, hat die Fotografin Christine Meder festgehalten. Menschen kletterten über die Zäune auf das Botschaftsgelände, Frauen durchbrechen tschechische Polizeiblockaden mit ihren Babys in den hocherhobenen Händen. Die Flure der Botschaft werden für hunderte Flüchtlinge aus der DDR zu Schlafsälen. Ihre Fotos zeigen die Dramatik dieser Tage - und entfachen Steiners Erinnerungen an diese Zeit aufs Neue.

Mauerfall vor 30 Jahren: Botschaftssprecher hilft Flüchtling über den Zaun
Denn im Herbst 1989 wurde der Ausnahmezustand zum Alltag - auch für Michael Steiner. Etwa als er einem Flüchtling über den Zaun der Botschaft hilft. Der junge Mann hängt zuvor umringt von Polizeibeamten an der Grundstücksbegrenzung.
Steiner erinnert sich an das Dilemma, in dem die Botschaftsmitarbeiter steckten. „Wir konnten die Menschen weder aktiv hereinholen, noch einfach so vor den Toren zurückweisen.“ Das Gebäude platzte aus allen Nähten. Ursprünglich war das Palais für eine kleine Fürstenfamilie ausgelegt, dann zur Botschaft umgebaut worden.

Mauerfall vor 30 Jahren: 40 Toiletten in Botschaft - für 7000 Flüchtlinge
Insgesamt 40 Toiletten waren installiert - viel zu wenig für die bis zu 7000 Flüchtlinge, die sich gleichzeitig auf dem Gelände aufhielten. „Zum Teil musste man für einen Gang zur Toilette Wartezeiten von bis zu zwei Stunden einplanen. Natürlich war das kein Zustand. Es war das reinste Chaos. Immer mehr Menschen kamen zu uns und alles was wir tun konnten, war es geschehen zu lassen“, erklärt Steiner.
Wochen der Angst und Ungewissheit vergehen, bis Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der Deutsche Abgesandte in Prag, endlich die zunächst freudige Meldung verkündet. Steiner steht neben Genscher auf dem Balkon am 30. September 1989: „Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise“ - der Rest von Genschers Worten wird von Jubelschreien übertönt.

Mauerfall vor 30 Jahren: Sonderzüge mussten durch die DDR in die BRD fahren
Doch die Freude währte nur kurz, erzählt Steiner: „Kurz nach den Jubelrufen verließ die Menschen das Gefühl der Freude bereits. Genscher erklärte ihnen die Bedingungen, welche die DDR an die Ausreise geknüpft hatte. Die Sonderzüge mussten über das Gebiet der DDR fahren, von Prag, über Dresden, nach Hof. Natürlich hatten viele nun Angst, es nie in die Bundesrepublik zu schaffen. Für mich war allerdings damals auf dem Balkon schon klar, dass das Ende der DDR besiegelt war.“
Der extreme Exodus, der Regime-Wechsel in Polen durch die Solidarnosc und die Grenzöffnung nach Österreich in Ungarn leiteten eine politische Neuorientierung ein, die im Mauerfall am 9. November gipfelte.

Mauerfall vor 30 Jahren: Aufräumarbeiten in Botschaft begannen erst Ende November
Erst Ende November kehrte Ruhe in die Botschaft ein. Die Aufräumarbeiten konnten beginnen. Die Küchen des Roten Kreuzes und Zelte wurden abgebaut, unzählige Stockbetten aus dem historischen Gebäude entfernt, und die Mitbringsel der Bewohner auf Zeit entsorgt. Aus einem Haus voller Leben, einem symbolischen Ort des Widerstands, wurde sukzessive wieder ein Ort der Bürokratie.
Auch nach Jahren im Auswärtigen Dienst hat Michael Steiner all das, all die Menschen, nicht vergessen. Für ihn haben die Ereignisse in Prag gezeigt, dass Deutschland eine Verantwortung im europäischen Kontext hat. „Solche Ereignisse lassen sich nicht durch Ländergrenzen beeinflussen. Dieses Stück Geschichte war kein allein deutsches Phänomen, es war ein europäisches.“

Lisa Kretzschmann