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Rente mit 63 war „größter Fehler“: „Illner“ sucht Arbeitskräfte, findet aber keine Lösung

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Die Talkrunde bei „Maybrit Illner“ am 02.02.2023.
Die Talkrunde bei „Maybrit Illner“ am 02.02.2023. © ZDF Mediathek (Screenshot)

Unser Wohlstandsmodell wackelt. Babyboomer gehen in Rente, eine halbe Million Fachkräfte fehlt. Rettet uns die Zuwanderung? Maybrit Illner sucht die Antwort.

Berlin – Dass der Arbeitsmarkt bis 2035 um etwa sieben Millionen Menschen schrumpfen wird, dass die Jugend zu viel studiert und auf Straßen klebt und zu wenig in klassische Berufe geht, all das beklagt die Runde bei Maybrit Illner am Donnerstagabend. Doch was tun? Die Suche nach Lösungen gestaltet sich schwieriger als gedacht.

Andrea Nahles ist erstaunlich gut gelaunt. Sie lächelt fast die ganze Sendung über. Doch auch sie beklagt, dass die fehlenden Arbeitskräfte „die größte Herausforderung der nächsten Dekade“ werden dürfte. Sie fordert eine Qualifizierungsoffensive: „Wir haben einen eklatanten Fachkräftemangel.“ Illner lässt Robert Habeck einspielen. Der stößt ins selbe Horn: „Überall fehlt es.“ Es gebe zu wenig Ingenieure, aber auch zu wenig Handwerker. „Das ist ein richtiges Problem.“

Was also tun? Elisabeth Niejahr erinnert sich an ihre Jugend. Damals war nur die Hälfte der Frauen berufstätig. Heute seien es 71 Prozent. Warum sind ausgerechnet in der Pandemie so viele Arbeitsplätze verloren gegangen, will Illner wissen. Weil viele Firmen bankrott gegangen seien, sagt Niejahr. Ricarda Lang, per Video zugeschaltet, beklagt, „dass wir bei der Einwanderung Fehler gemacht haben“. Jetzt gehe es darum, „dafür zu sorgen, dass mehr Frauen in Vollzeit arbeiten können“.

Mit Maybrit Illner diskutierten diese Gäste

Dass in ihrer eigenen Zeit als Bundesarbeitsministerin (2013-2017) irgendwelche Fehler gemacht worden sein könnten, verneint Andrea Nahles. Immerhin sei da auch die Flüchtlingskrise von 2015 gewesen, und die habe man bewältigt. Das Stichwort Immigration wird an diesem Abend nicht weiter vertieft. Warum die Millionen Zuwanderer das Problem des Fachkräftemangels entgegen aller Ankündigungen doch nicht lösen, ist die Frage. Carsten Linnemann sagt: „Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir 25 Prozent weniger Fachkräfte haben werden. Das werden wir auch durch Zuwanderung nicht schaffen.“ Die Debatte entwickelt sich in eine andere Richtung. Nahles beklagt, es gebe einfach „viele Menschen, bei denen wir es nicht schaffen, die zum Arbeiten zu bekommen“. Mehr noch: Zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen seien mehr als 55 Jahre alt oder „von der Qualifikation her auf Helferniveau. Tatsache ist, dass es momentan nicht matcht. Der offene Arbeitsplatz und die Arbeitslosen, die wir haben.“

Niejahr hat eine Empfehlung: Wenn man beispielsweise in der Pflege ältere Mitarbeiter gewinnen wolle, „dann muss man auch höhere Löhne zahlen“. Sie ruft ein Detail ins Gedächtnis, das die Runde erstaunt: Bis 2020 hätten Pflegekräfte ihre Ausbildung sogar selbst bezahlen müssen. „Schulgeld“ statt Lohn, verkehrte Welt. „Man fasst sich wirklich an den Kopf, wie das möglich ist“, so Niejahr.

Linnemanns Lösung: In der Rente einfach weiter arbeiten

Die Rente mit 63 sei einer der größten Fehler der Koalition gewesen, klagt Linnemann, doch Nahles erinnert ihn: „Dem haben Sie aber auch zugestimmt.“ Linnemann muss eingestehen: Ja das stimmt. Doch er hat eine andere Idee: die „Aktivrente“. Menschen sollten einfach nach dem Renteneintritt weiterarbeiten, viele würden das jetzt ohnehin bereits notgedrungen tun, nach seinem Modell dann allerdings steuerfrei. „Wir haben außergewöhnliche Zeiten. Jetzt brauchen wir außergewöhnliche Instrumente.“

Dittrich, selbst Dachdecker in Dresden, sieht die Lösung des Problems woanders. Er ist der Meinung, „dass wir eine Bildungswende“ schaffen müssen: „Wir brauchen Berufsorientierung auch an den Gymnasien.“ Die Priorisierung sei „aus dem Ruder gelaufen“. Zu viele Jugendliche würden Richtung Universität tendieren und dann viel zu spät „erkennen, dass sie dort gar nicht gut aufgehoben sind“. Er setzt auf frühe Förderung von Talenten. Klassische Ausbildungsberufe müssten attraktiver werden.

Nahles: „Demografie muss auch Automatisierung küssen“

„Wir haben viel über physische Gesundheit gesprochen, aber nicht so viel über die mentale Gesundheit“, sagt Sara Weber, Journalistin und Autorin des Buchs „Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten“. Der Stress nehme zu und erst bei Renteneintritt wieder ab. Sie beklagt, „dass das bei vielen Menschen nicht mehr so funktioniert“. Auch Dittrich sieht hier Probleme: „Wir haben geglaubt, dass junge Menschen, die mit den sozialen Medien groß werden, schon den Umgang damit gelernt haben. Es scheint aber doch etwas mit den Menschen zu machen. Wenn man ständig nur negative Nachrichten und hundert Mails am Tag bekommt und WhatsApp und was weiß ich – das scheint eine größere, psychische Belastung zu sein als wir uns vorstellen.“

Dittrich fasst es so zusammen: „Demografisches Problem ist nicht, dass die Menschen älter werden, sondern wenn wir uns keine positive Zukunft mehr vorstellen können.“ Fakt sei aber auch, dass die enormen Sozialabgaben und Steuern jede Arbeitsleistung viel zu teuer machten. „Der, der die Leistung erbringt, kann sie sich selbst nicht kaufen. Das, was die Fachkraft netto bekommt, und das, was der Betrieb brutto in Rechnung stellen muss, ist so weit auseinandergerutscht, dass es sich ein normaler Mensch nicht mehr leisten kann.“ Nahles sagt: „Demografie muss auch Automatisierung küssen. Manches von dem werden am Ende auch wegen der hohen Personalkosten Menschen nicht mehr machen.“

Überraschung: Bundestagsabgeordnete brauchen kein Neun-Euro-Ticket

Linnemann kritisiert die Vollkaskomentalität der Deutschen. Der Staat gebe den Menschen das Gefühl, „als ob er für alles sorgt und für alles verantwortlich“ sei: „Der verteilt so das Geld, als ob alle Lebensrisiken abgedeckt wären.“ Dass Menschen angesichts der enormen Inflation am Existenzminimum arbeiten, bezweifelt er. Im Gegenteil: In den letzten zwei Jahrzehnten hätten die Menschen „gearbeitet aus existentiellen Gründen, um den Lebensunterhalt zu erwirtschaften“. Heute hingegen käme zu viel Geld vom Staat. „Selbst Bundestagsabgeordnete kriegen das Neun-Euro-Ticket, paar hundert Euro Energiepauschale. Ich brauch das gar nicht.“

Fazit des Talks bei Maybrit Illner:

Die Runde kann die selbst gesteckten Schlagworte nicht abarbeiten. Etwa, dass Deutschland die höchsten Beitragssätze und zugleich das niedrigste Rentenniveau der EU hat. Dass junge Leute kaum konstruktiv an Lösungen mitarbeiten. Auch das Thema Migration wurde nur gestreift. Illner muss am Ende eingestehen: „Sie merken, wir schaffen das schöne Thema Zuwanderung nicht. Wir heben uns das auf.“ (Michael Görmann)

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