Medikamente in Deutschland werden knapp – und eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht

Wer Krebsmedikamente oder Hustensaft für Kinder braucht, hat ein Problem. Denn es gibt Lieferengpässe bei Medikamenten. Die Gründe sind einfach, die Lösung schwierig.
Köln – Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte in den „Tagesthemen“ am Dienstag einen Satz, der eigentlich so selbstverständlich sein sollte, dass man ihn nicht sagen müsste. Krankenhäuser müssten so ausgestattet sein, „dass sie mehr auf die Medizin ausgerichtet sind, nicht auf die Ökonomie.“ Mit einer großen Reform will er das anpacken. Es ist nicht das einzige Problem, das in seinen Bereich fällt. Bereits vor einigen Tagen kündigte Lauterbach ein Gesetz an, um die unzureichende Versorgung mit Medikamenten in den Griff zu bekommen.
Verbände warnen seit Wochen vor Engpässen. Auch in dieser Causa ist die Erklärung so simpel wie niederschmetternd: Wirtschaftliche Interessen schlagen eine patientengerechte Versorgung. In Deutschland ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für die Überwachung von Medikamenten verantwortlich. Rund 100.000 verkehrsfähige Humanarzneimittel gibt es hierzulande, schreibt das BfArM auf Anfrage der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA. Derzeit liegen 301 Meldungen zu Lieferengpässen vor. Besonders dramatisch ist die Situation bei Fiebersäften für Kinder, Hustenmittel, Blutdrucksenker und Brustkrebsmedikamente.
Medikamente fehlen: Lieferengpass oder Versorgungsnotlage?
Ob man von einem Lieferengpass oder einer Versorgungsnotlage spricht, ist für das BfArM ein großer Unterschied. Bei einem Lieferengpass kann ein Medikament zwei Wochen lang nicht geliefert werden, oder die Nachfrage steigt so rasant, dass der Nachschub nicht reicht. Die nächste Eskalationsstufe ist ein Versorgungsengpass. Das ist der Fall, wenn es keine alternativen Medikamente mit dem gleichen Wirkstoff gibt. Experten sprechen von sogenannten Generika, das sind patentfreie Arzneimittel.
Das Problem ist, dass diese Präparate zu einem überragenden Anteil in Indien und China produziert werden. Gestiegene Energie- und Transportkosten sowie die Sackgasse, in der sich China durch die Zero-Covid-Strategie wirtschaftlich befindet, verschärfen das Problem. Deutschland ist abhängig von ausländischer Produktion – und an dieser Situation ist die Politik Schuld, das betont der Apothekerverband schon seit Jahren.
Denn das tieferliegende Problem sind sogenannte Rabattverträge. Damit meinen Experten eine besondere Vertragskonstruktion im Gesundheitswesen. Krankenkassen handeln mit Herstellern von Medikamenten Verträge aus. Der Clou: Wenn sie nur mit einem Hersteller einen Deal abschließen, liefert der Pharmazieproduzent besonders günstig. Die Krankenkasse verpflichtet sich im Gegenzug, ausschließlich bei diesem Hersteller einzukaufen.
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Pro Generika fordert: „Endlich weg vom Hauptsache-Billig-Prinzip“
Die Folge ist ein enormer Kostendruck, was die Produktion in Deutschland praktisch unmöglich macht. Der Branchenverband Pro Generika fordert: „Endlich weg vom Hauptsache-Billig-Prinzip bei Generika und hin zu einem System, das Herstellern den Aufbau von resilienten Lieferketten und einer stabilen Produktion gestattet.“
Doch wie könnte eine konkrete Lösung aussehen? Man müsste die Krankenkassen dazu zwingen, künftig mindestens mit drei Herstellern Verträge abschließen – diese Lösung schlägt der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) vor. Kurzfristig könnten auch höhere Preise für Entlastung sorgen, argumentiert der BAH. Die Politik solle eine Möglichkeit schaffen, „die aktuellen Kostensteigerungen zumindest in Höhe der Inflation bei Festbeträgen und Rabattverträgen auszugleichen“, sagte ein Sprecher dieser Redaktion. Denn aufgrund der langfristigen Vereinbarungen können die Preise nicht einfach erhöht werden. Die Konsequenz: Hersteller steigen aus der Produktion aus.
Eine weitere Möglichkeit wären größere Vorräte. „Kurzfristig sollten Pharmagroßhändler Vorräte für vier statt für nur zwei Wochen anlegen. Apotheken sollten für eine Woche bevorraten“, sagte ein Sprecher der Ärztegewerkschaft Marburger Bund der Frankfurter Rundschau von IPPEN.MEDIA. Nur: Medikamente, die jetzt nicht verfügbar sind, können natürlich auch nicht eingelagert werden.
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Keine kurzfristige Lösung in Sicht – obwohl Verschärfung droht
So bleibt das Problem ungelöst, wenngleich das BfArM beschwichtigt. Aktuell gebe es keine Hinweise auf eine generelle akute Verschlechterung der Versorgungslage in Deutschland. Oftmals würden alternative Arzneimittel zur Verfügung stehen. Doch diese Argumentation hat einen Haken, denn sie bedeutet mehr Aufwand für die ohnehin überlasteten Apotheker. Vor allem ältere Patienten und solche, die seit Jahren dasselbe Medikament nehmen, brauchen mehr Beratung. Auch bei der Verschreibung von Antibiotika ist Vorsicht geboten. Nicht jeder Mensch verträgt jedes Präparat.
Man kommt um eine grundsätzliche Reform nicht herum. Der Marburger Bund plädiert für eine Rückverlagerung der Produktion nach Europa. Ob das im Gesetz von Lauterbach aufgegriffen wird, ist unklar. Wann seine Reform die erhoffte Wirkung entfaltet, ist noch viel unklarer. Man brauche aber bald eine Lösung, warnt Pro Generika. Denn: „Das Ende der Engpässe ist derzeit nicht absehbar. Im Gegenteil: Es ist davon auszugehen, dass ihre Zahl in den kommenden Monaten noch zunimmt.“