Merkel und die Koalition kurz vor dem Aus: So ernst ist die Lage in Berlin

Der Asylstreit zwischen Kanzlerin und Innenminister eskaliert vollends. Steht die schwarz-rote Regierung nach nicht einmal 100 Tagen vor dem Aus?
Berlin/München – An welch tiefem Abgrund die Union steht, zeigt sich auf offener Bühne. Ein altgedienter CSU-Abgeordneter trifft auf einen CDU-Kollegen. Mitten auf der Fraktionsebene des Bundestags, zwischen dutzenden Kamerateams, herrscht er ihn an: „Ihr spinnt doch. Der Merkel ist das deutsche Volk egal, der Merkel sind die Abgeordneten egal. Und ihr lasst euch erzählen, sie sei die letzte Super-Europäerin.“ Merkels Asylpolitik steht schon wieder stark in der Kritik.
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Aktuelle Umfrage: Mehrheit der Deutschen stellt sich hinter Seehofer - und gegen Merkel
Beobachtet hat den Eklat ein erfahrener Welt-Reporter; die Szene lässt tief blicken. CDU und CSU, formal Schwesterparteien, sind so tief zerstritten, dass daran binnen Tagen die komplette Bundesregierung scheitern könnte. Nein, das ist keine Übertreibung. Der Tag im Parlament läuft völlig aus dem Ruder.
Klingt seriös - ist aber falsch
Es beginnt in den frühen Morgenstunden, Berlin schläft noch. Da kursieren erste Meldungen über das Krisentreffen von Angela Merkel (CDU) und ihrem Innenminister Horst Seehofer (CSU) im Kanzleramt. Sie sollen sich gegen Mitternacht angenähert haben im Streit um Zurückweisungen von registrierten Flüchtlingen an der Grenze, die CSU sei kompromissbereit.
Das klingt seriös, doch es ist falsch. Seehofer hat drei Stunden lang keinen Schritt getan. Seine Angebote an Merkel: Er werde entweder sofort Zurückweisungen anordnen und erst wieder aussetzen, sobald ein EU-Gipfel eine europäische Lösung dafür erarbeitet habe. Oder man werde jetzt Zurückweisungen beschließen und in zwei Wochen in Kraft setzen, wenn der nächste EU-Gipfel kein Ergebnis bringe. Man kann das wahlweise eine Drohung nennen oder ein Ultimatum.
Über alle Entwicklungen im Asyl-Streit halten wir Sie in unserem News-Ticker auf dem Laufenden
Merkels Gegenvorschlag ist für die CSU genauso inakzeptabel: Erst mal abwarten und mit den Ländern bilateral Verträge über die Zurückweisung an den Grenzen schließen. Das dauert der CSU zu lange. „Das ist doch völlig irre“, schnaubt am Morgen ein CSU-Stratege ins Telefon. Das Verhältnis sei „zerrüttet“.
Merkel bleibt bei ihrer Position:
Donnerstagnachmittag: Kauder ist völlig von der Rolle, Altmaier isst
In derart aufgeheizter Stimmung kommen am Vormittag die Abgeordneten zusammen. Eigentlich zu einer Routinesitzung des Bundestags, doch angesichts des Chaos in der Union wird die Sitzung unterbrochen. Stundenlang.
Währenddessen entwickelt sich im Reichstag, dritter Stock, eine bisher einzigartige Konstellation: Merkel holt alle CDU-Abgeordneten in einen Saal, um sie um ihr Vertrauen zu bitten. Seehofer holt alle CSU-Abgeordneten in einen anderen Saal, um sie auf eine harte Linie gegen Merkel einzuschwören.
Die Fraktion, der ihre sorgsam ausgetüftelte Gemeinschaft seit Jahrzehnten heilig ist, tagt getrennt. Glaubt man dem, was durch die verschlossenen Türen dringt, ist es vor allem für Merkel eine dramatische Sitzung. Ihre Vertrauten hasten wild telefonierend über die Flure, Mitarbeiter werden vor die Türe geschickt. Fraktionschef Volker Kauder, völlig von der Rolle, packt Journalisten körperlich an („weg hier“). Minister Peter Altmaier stopft sich vor Kameras in rascher Folge drei Wiener Würstchen in den Mund.
Merkel weiß, dass inzwischen eine Mehrheit ihrer Parteifreunde inhaltlich hinter Seehofer steht. Ihr Kritiker Jens Spahn wirbt in der Sitzung offen für die CSU-Position. Würde die Runde jetzt abstimmen, Merkel verlöre das Votum über den Kern ihrer Flüchtlingspolitik, die offenen Grenzen. Es wäre ein Gesichtsverlust, den sie wohl nur mit dem sofortigen Rücktritt beantworten könnte.
Schäuble könnte jetzt den Daumen senken - es wäre Merkels Ende
Merkel wirbt in der Sondersitzung, vier Stunden lang, unbeirrt für ihren Kurs. Sie bittet um Vertrauen bis zum EU-Gipfel am 28. und 29. Juni in Brüssel. Sie wisse, das sei ambitioniert. Direkt nach ihr ergreift Wolfgang Schäuble das Wort, der Bundestagspräsident. Er könnte jetzt den Daumen senken, es wäre Merkels Ende und vielleicht sein plötzlicher Sprung zum Not-Kanzler. Doch Schäuble beschwört die Zukunft und den Bestand Europas. Es sei eine schwierige Situation für CDU, CSU, das Land und Europa: „Einige Abgeordnete wissen offenbar gar nicht, welchen großen Schaden sie anrichten.“
Er redet der Fraktion ins Gewissen. Und hat Erfolg. 50 Parlamentarier melden sich zu Wort, die meisten stützen die Kanzlerin, manche mit zusammengebissenen Zähnen. Die angeschlagene Regierungschefin gewinnt damit Zeit – doch wie viel?
Die wenige Meter entfernt tagende CSU stellt sich voll hinter Seehofer. Der Parteichef weiht sie in einen explosiven Zeitplan ein. Es gehe jetzt um die Glaubwürdigkeit, sagt er, abzuwarten „können wir uns nicht mehr erlauben“. Am Montag will er in München den Parteivorstand befragen, ob er seinen Asyl-Masterplan einfach in Eigenregie umsetzen soll – als Bundesinnenminister kann er das, sagen die Juristen der CSU, bis hin zu den Zurückweisungen an der Grenze. Die Bundespolizei müsste Seehofers Kommando gehorchen, ob gleich am Montag oder ein paar Tage später.
„Ernst, sehr ernst“ sei die Lage, sagt Dobrindt
„Ich kann das mit Ressortzuständigkeit anweisen“, wird Seehofer zitiert, „dann würde ich das tun. Dann wird man sehen, was passiert.“ Was passiert, wissen sie bei der CSU selbst nicht genau. Sie wissen ja nicht mal, was Seehofers Plan ist.
Das größte Kuriosum an diesem Tag bleibt ja, dass weder die Abgeordneten von CDU noch von CSU den „Masterplan Migration“ je zu Gesicht bekommen haben. Sie diskutieren nur über die strittigen Zurückweisungen, die wohl nur einer von 63 Punkten sind. Falls Seehofer genau diesen Punkt scharf stellt – wird Merkel ihren Minister dann entlassen? In der Folge würde die CSU die Regierung verlassen, die Koalition hätte keine Mehrheit mehr.
„Ernst, sehr, sehr ernst“ sei die Lage, raunt Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, „eine historische Situation“. Es heißt, seine Partei sei bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Darauf deutet auch ein Satz von Ministerpräsident Markus Söder hin, der den Tag in Berlin verbringt. Vom „Endspiel um die Glaubwürdigkeit“ spricht Söder düster: „Die Menschen haben die Geduld verloren.“
Christian Deutschländer