Schulz schließt große Koalition aus
Es ist eine Zäsur in der Geschichte der Republik. Trotz aller Warnungen zieht erstmals seit über 50 Jahren eine Partei rechts der Union in den Bundestag, die SPD stürzt völlig ab. Merkel kann Kanzlerin bleiben - die Koalitionsbildung wird aber schwierig.











Berlin (dpa) - Steiler Aufschwung der AfD, historisches Fiasko der SPD, verlustreicher Sieg der Union: Bundeskanzlerin Angela Merkel kann nach der Bundestagswahl trotz gewaltiger Einbußen voraussichtlich vier weitere Jahre regieren.
Ihr bisheriger Koalitionspartner SPD mit dem Herausforderer Martin Schulz stürzt nach den ersten Hochrechnungen auf ein Rekordtief. Großer Profiteur der Klatsche für die große Koalition ist die Rechtsaußen-Partei AfD. Mit ihr schafft erstmals seit den 50er Jahren eine rechtsnationale Partei den Sprung ins Parlament - und erobert gleich Platz drei.
Der FDP gelingt nach vier Jahren die Rückkehr in den Bundestag. Mit den ebenfalls vertretenen Linken und Grünen ergibt sich erstmals seit den 50er Jahren wieder ein Sechs-Fraktionen-Parlament.
Denkbar wäre ein bisher im Bund noch nie erprobtes Jamaika-Bündnis aus CDU/CSU, FDP und Grünen. FDP und Grüne zeigten sich prinzipiell gesprächsbereit, sahen aber große Hürden. Einer rechnerisch ebenfalls möglichen Fortsetzung der großen Koalition erteilte die SPD-Spitze sofort nach Wahlschluss eine Absage: «Es ist völlig klar, dass der Wählerauftrag an uns der der Opposition ist», sagte Schulz.
Nach den Hochrechnungen von 18.40 Uhr fällt die Union auf ihr schwächstes Ergebnis seit 1949: 32,9 bis 33,5 Prozent (2013: 41,5). Die einstige Volkspartei SPD scheint das Vertrauen vieler Wähler dauerhaft verloren zu haben: Nach zwei bereits schwachen Bundestagswahlen stürzt sie nun auf ein Rekordtief von 20,2 bis 20,9 Prozent (25,7). Die AfD, 2013 noch knapp gescheitert, legt mit 13,2 bis 13,3 Prozent auf knapp das Dreifache zu (4,7) - ein Resultat, das auch im Ausland mit Sorge beachtet wird.
Die Grünen verbessern sich auf 9,3 bis 9,4 Prozent (8,4). Die Linken verharren leicht über ihrem alten Niveau bei 9 Prozent (8,6). Die seit 2013 nicht mehr im Parlament vertretene FDP überspringt mit 9,9 bis 10,5 Prozent locker die Fünf-Prozent-Hürde (4,8).
Die Sitzverteilung sieht nach den Hochrechnungen von Infratest dimap (ARD) und Forschungsgruppe Wahlen (ZDF) so aus: CDU/CSU 217 bis 220 (2013: 311), SPD 134 bis 138 (193), AfD 87 bis 88, FDP 65 bis 70, Grüne 62 (63) und Linke 59 oder 60 Mandate (64).
Die Wahlbeteiligung lag bei 75 bis 76,5 Prozent (71,5). Zur Abstimmung aufgerufen waren rund 61,5 Millionen Wahlberechtigte.
Merkel steht damit vor ihrer vierten Amtszeit. Die Union habe sich ein besseres Ergebnis gewünscht, zugleich habe man aber die Wahlziele erreicht, sagte Fraktionschef Volker Kauder (CDU). Einfach werden Gespräche über eine Regierungsbildung nicht, nachdem die SPD eine Absage und den Gang in die Opposition verkündet hat. FDP-Vize Wolfgang Kubicki sagte, einen Automatismus für Jamaika gebe es nicht. Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt rechnete mit schwierigen Gesprächen: «Wir werden kein einfacher Partner sein.»
Der Einigungsdruck ist aber groß, denn von einer Neuwahl könnte die AfD noch stärker profitieren. Als Koalitionspartner kommt diese für keine andere Partei in Frage.
Dass es vor der Landtagswahl in Niedersachsen am 15. Oktober konkret wird, gilt als unwahrscheinlich - keine Partei im Bund will den Wahlkämpfern in Hannover mit Vorfestlegungen in die Quere kommen.
Schulz sprach von einem bitteren Tag für die Sozialdemokratie. Er kündigte an, Parteivorsitzender bleiben zu wollen. Auch Parteivize Manuela Schwesig und der bisherige Fraktionschef Thomas Oppermann sprachen sich für ihn aus. Den AfD-Erfolg nannte Schulz bedrückend: «Das ist eine Zäsur, und kein Demokrat kann darüber einfach hinweggehen.»
AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland machte eine Kampfansage an die künftige Bundesregierung: «Sie kann sich warm anziehen. Wir werden sie jagen», sagte er. «Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.»
Ein Sieg der Union hatte sich seit Monaten in allen Umfragen angedeutet. Das war aber nicht immer so. Schulz' Nominierung zum Kanzlerkandidaten am Jahresanfang ließ die Umfragewerte der SPD zunächst emporschnellen und bei den Sozialdemokraten Hoffnung auf einen Machtwechsel keimen. Von drei verlorenen Landtagswahlen im Frühjahr erholte sich die Partei aber nicht mehr. Mit dem Thema soziale Gerechtigkeit konnte Schulz nicht punkten. Andere Streitthemen wie die von der SPD geforderte Ehe für alle räumte Merkel vor der Wahl ab.
Die AfD schaffte es in der Endphase des Wahlkampfs immer wieder, mit provokanten Äußerungen Aufmerksamkeit zu erregen. Ihr nützte es, dass das Thema Flüchtlingspolitik eine größere Rolle spielte, als die zurückgegangenen Zuzugszahlen erwarten ließen.
Wegen des starken AfD-Ergebnisses könnte der Unionsstreit über Merkels Flüchtlingspolitik wieder aufflammen, zumal die CSU in Bayern nach einer Prognose des Bayerischen Rundfunks auf 38,5 Prozent gefallen ist (2013: 49,3). CSU-Chef Horst Seehofer hat eine Obergrenze für den Zuzug einst als Bedingung für eine Koalitionsbeteiligung genannt. Darauf dürfte er bei der ablehnenden Merkel pochen, um vor der bayerischen Landtagswahl 2018 weiteren Zuwachs für die AfD zu verhindern. Es komme nun darauf an, die offene Flanke auf der rechten Seite zu schließen, sagte Seehofer, «mit klarer Kante und klaren politischen Positionen».
Die Union verdankt ihren Sieg laut Forschungsgruppe Wahlen vor allem dem Ansehen von Kanzlerin Angela Merkel. Die CDU-Chefin habe in einem ökonomisch starken Deutschland und global fragilen Umfeld Stabilität und Führungsstärke vermittelt, schrieben die Mannheimer Wahlforscher in einer ersten Analyse. 73 Prozent der Deutschen hätten ihr als Kanzlerin gute Arbeit bescheinigt.