Nach Polizeigewalt bei Referendum: 700.000 demonstrieren in Barcelona

Der Konflikt um Katalonien spitzt sich zu, wieder gehen Hunderttausende auf die Straßen. Und die Uhr tickt: Schon Freitag könnte Barcelona die Unabhängigkeit ausrufen.
Die Massenkundgebungen gegen Polizeigewalt in Barcelona haben die Zahl von 700.000 Teilnehmern erreicht. Das teilte die städtische Polizei am Dienstagabend in der katalanischen Hauptstadt mit. Bis zum Nachmittag hatten sich bereits 300.000 Menschen auf den Straßen Barcelonas versammelt, um gegen den von Madrid angeordneten Einsatz polizeilicher Gewalt gegen Teilnehmer des katalanischen Unabhängigkeitsreferendums zu protestieren. Sie riefen "Besatzungskräfte raus!", "Die Straßen werden immer unsere sein", "Adios España" und andere Parolen. Ein Polizeihubschrauber überflog die Menge. Er wurde mit wütenden Pfiffen und Stinkefingern bedacht.
Mit einem Generalstreik haben zudem zehntausende Menschen das Leben in der nordspanischen Region Katalonien weitgehend lahmgelegt. Am Ausstand beteiligten sich unter anderem Hafenarbeiter, Verkehrsbetriebe, Universitäten und Museen. Beim Fußballklub FC Barcelona fiel das Training aus, auch das Personal der Sagrada Familia, der berühmten Basilika in der Regionalhauptstadt, legte die Arbeit nieder. Schulen und etliche Geschäfte hatten geschlossen.
Der katalanische Präsident Carles Puigdemont zeigte sich überzeugt, dass der Streik sehr breit befolgt werde. Bereits am Morgen blockierten Demonstranten Straßen und wichtige Verkehrsadern. Auf der Autobahn Richtung Frankreich stellten zwei Jugendliche einen Klapptisch auf und spielten Schach. In der Nähe der Plaça de la Universitat hing ein Schild mit der Aufschrift "Wegen Revolution geschlossen". Zu dem Aktionstag hatten dutzende Gewerkschaften und andere Organisationen aufgerufen.
Regionalparlament plant Unabhängigkeitserklärung
Die Zentralregierung prangerte zur selben Zeit in Madrid eine „Verfolgung“ von Staatsbeamten durch die Katalanen an. Man werde „alles Nötige unternehmen“, um die Verfolgung zu stoppen, warnte Innenminister Juan Ignacio Zoido. Die 10.000 von Madrid entsandten Polizisten blieben am Dienstag jedoch fast alle in den Unterkünften. Einige hundert wurden von katalanischen Hotels aus Protest vor die Tür gesetzt. Spaniens König Felipe richtete sich in einer TV-Ansprache an die Spanier - und warf den Katalanen vor, die Stabilität des Landes aufs Spiel zu setzen.
Auch in Girona fanden sich mehr als 30.000 Menschen ein. In Reus, Tarragona und anderen Städten gab es ebenfalls Großdemonstrationen. Feuerwehrmänner waren mit von der Partie, Bauern protestierten auf ihren Traktoren und sperrten Straßen ab. Katalonien ist die wirtschaftsstärkste Region Spaniens und steuert knapp ein Fünftel zum Bruttoinlandsprodukt des Königreichs bei.
Währenddessen bereitete sich die Regionalregierung von Carles Puigdemont weiter auf die Ausrufung der Unabhängigkeit vor. Abgeordnete erklärten laut Medienberichten, das Regionalparlament in Barcelona komme am Mittwoch zusammen, um einen Termin für die Sitzung festzulegen, bei der die Unabhängigkeitserklärung lanciert werden soll.
Puigdemont hatte die Demonstranten aufgefordert, bei den Protesten gegen die Polizeigewalt friedlich zu bleiben. „Heute ist ein Tag des demokratischen, staatsbürgerlichen und würdigen Protests“, schrieb der 54-Jährige auf Twitter. Und die Kundgebungen verliefen zunächst in der Tat ohne nennenswerte Zwischenfälle.
Es gibt aber nach wie vor auch Gegner einer Unabhängigkeit. Eine ältere Unabhängigkeitsgegnerin rief unter Tränen: „Wir sind allein hier. Die spanische Regierung tut nichts und hat uns unserem Schicksal überlassen.“ Sie könne nicht die Fahne ihres Landes auf den Balkon hängen, denn man bezeichne sie sofort als Faschistin.
Innenminister wirft Katalonien „Aufstachelung zur Rebellion“ vor
Madrid blieb am Dienstag aber nicht untätig. Innenminister Zoido hielt eine Dringlichkeitssitzung mit den Chefs der staatlichen Polizeieinheiten Guardia Civil und Policía Nacional ab. Danach beriet er sich auch mit Ministerpräsident Mariano Rajoy. Zoido warf der katalanischen Regierung "Aufstachelung zur Rebellion in den Straßen" vor. Madrid werde "alle Maßnahmen" ergreifen, um die "Drangsalierungen" zu stoppen.
Auch die stellvertretende Ministerpräsidentin Soraya Saénz de Santamaría kritisierte die Demonstrationen gegen die Polizei in Katalonien und gab den separatistischen Politikern der Region die Schuld. „Wir werden mafiöses Verhalten der Gemeinden in Katalonien nicht tolerieren“, sagte sie in Madrid.
Gegner der Unabhängigkeit kündigten unterdessen für Sonntag eine Demonstration gegen die Abspaltung Kataloniens von Spanien an. Es gehe darum, wieder „die Vernunft zurückzugewinnen“, erklärte Àlex Ramos, der Vizepräsident der zivilen Organisation Societat Civil Catalana (SCC).
„Dringlichkeitsdebatte“ im Europaparlament
Die spanische Polizei war am Sonntag mit massiver Gewalt gegen das vom Verfassungsgericht als rechtswidrig eingestufte Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens vorgegangen. Polizisten schlossen Wahllokale, beschlagnahmten Abstimmungsunterlagen und hinderten Menschen mit Schlagstöcken und Gummigeschossen an der Stimmabgabe. Das Fernsehen zeigte Bilder von Polizisten, die Demonstranten an den Haaren zogen, Treppen hinunterwarfen und gegen Feuerwehrleute vorgingen, die Wahllokale schützten.
90 Prozent der Wähler in Katalonien stimmten der Regionalregierung zufolge für die Loslösung der Region vom spanischen Königreich. Die Beteiligung lag bei 42 Prozent.
Der Konflikt um das Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien wird auch das Europaparlament beschäftigen. Zum Auftakt der Oktober-Plenarsitzung setzten die Abgeordneten am Montagnachmittag eine Dringlichkeitsdebatte zu dem Thema auf die Tagesordnung. Sie soll am Mittwochnachmittag stattfinden.
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dpa/AFP/fn