Nawalny-Vergiftung: Anschlag auf Putin-Gegner soll auf acht Männer zurückgehen - sie begingen mehrere Fehler

Tagelang kämpfte Alexej Nawalny um sein Leben. Die Welt litt mit. Nun verdichten sich die Anzeichen, das ein „Killerkommando“ auf den Kreml-Kritiker angesetzt war - und das über Jahre.
München - Alexej Nawalny feierte in diesem Jahr seinen zweiten Geburtstag. In einem Berliner Krankenhaus, wo er nach einer wohl niemals ganz aufzuklärenden Vergiftung dem Tod gerade noch von Schippe sprang. Nun träumt der Gegenspieler von Russlands Präsident Wladimir Putin von einer Rückkehr in sein Heimatland. Obwohl sich die Hinweise verdichten, dass der Angriff auf sein Leben aus dem Kreml selbst befohlen wurde.
So ergaben gemeinsame Recherchen des Spiegel mit der britischen Investigativplattform Bellingcat, der in Russland ansässigen Internetzeitung The Insider und des US-Nachrichtensenders CNN, dass Nawalny wohl Opfer vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB geworden ist. Acht Namen von Mitarbeitern des KGB-Nachfolgers nennt das Nachrichtenmagazin in einem ausführlichen Artikel.
Nawalny-Vergiftung durch FSB? Recherche-Netzwerk sammelt „erdrückende Last an Indizien“
Diese Zelle, für den Spiegel nicht weniger als ein „Killerkommando“, soll es auf den Kreml-Kritiker abgesehen haben. Es gebe eine „erdrückende Last an Indizien“. Auch wenn keiner der FSB-Agenten auf eine Nachfrage reagiert habe. „Ich kann auf einmal auf ihre Fotos schauen und sagen: Ihr habt es getan“, wird Nawalny zitiert, der sich nach wie vor in Deutschland aufhält. An einem unbekannten Ort. Zu seiner eigenen Sicherheit.
Denn natürlich wissen seine verhinderten Mörder längst, dass ihre Mission gescheitert ist. Und das offenbar auf ganzer Linie. Seit Monaten, wenn nicht gar Jahren habe das Team um Stanislaw Makschakow, dem „Chef der Killertruppe“, und Oleg Tajakin, dem „mutmaßlichen Koordinator der Operation“, den Oppositionspolitiker beschattet.
Nawalny-Vergiftung durch FSB? Killertruppe soll aus sechs Personen bestanden haben
Das würde die Auswertung von „Mobilfunkverbindungen, GPS- und Standortdaten von mehr als einem Dutzend FSB-Agenten und Analysen zahlreicher Passagierlisten russischer Linienflüge“ nahelegen. Bereits ab Mitte Januar 2017 lässt sich demnach nachweisen, dass in der Regel fünf FSB-Mitarbeiter in wechselnder Besetzung Nawalny auf mehrtägigen Reisen heimlich begleiteten. Belege gebe es für mindestens 30 Flüge.
Die Drecksarbeit blieb den sechs Mitgliedern des „Killerteams“ vorbehalten: Ihre Namen werden mit Alexej Alexandrow, Michail Schwez, Wladimir Panjajew, Alexej Kriwoschekow, Konstantin Kudrjawzew und Iwan Ossipow angegeben. Allerdings würden sie teilweise unter Decknamen agieren.
Video: Russland legt im Fall Nawalny gegen Deutschland nach
Nawalny-Vergiftung durch FSB? Drei Agenten fliegen kurz vor Kreml-Kritiker nach Nowosibirsk
Bei jenem verhängnisvollen Nawalny-Ausflug nach Nowosibirsk im August sollen zumindest Alexandrow, Panjajew und Ossipow vor Ort gewesen sein. Das belegen Ortungsdaten ihrer Handys. Sie seien kurz vor dem 44-Jährigen nach Sibirien aufgebrochen.
Und zwar am 13. August. Dem Tag, an dem auch Marija Pewtschich, eine weitgehend unbekannte Nawalny-Vertraute und Investigationschefin seiner politischen Organisation, die Flugreise antritt. Sie soll in Nowosibirsk Auftritte und Drehtermine ihres Chefs vorbereiten. Schon auf dem Weg zum Flughafen wird sie dem Bericht zufolge observiert.
Nawalny-Vergiftung durch FSB? Hotelzimmer über Balkon mit anderem Zimmer verbunden
Erstmals misstrauisch wird Pewtschich, als ihr vor Ort ein Hotelzimmer zugeteilt wird, das über einen Balkon mit einem anderen Zimmer verbunden ist. Sie fordert an der Rezeption eine Umbuchung, was ihr verwehrt wird. Angeblich sei das Hotel komplett belegt. Merkwürdig nur, dass Pewtschich nach eigener Aussage im Internet ein anderes Zimmer buchen könnte.
Letztlich entscheidet sich die Wahl-Londonerin, die später noch zu einer Schlüsselperson in dem Fall werden soll, zu einem Hotelwechsel. Allerdings storniert sie das Zimmer nicht. Um nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen.
Nawalny-Vergiftung durch FSB? Agent schaltet vor ursprünglichem Hotel sein Handy ein und wird geortet
Am 14. August trifft dann auch Nawalny in Nowosibirsk ein. Noch während seines Fluges begeht FSB-Mann Alexandrow den Fehler, sein Handy anzuschalten, als er sich vor dem Hotel befindet, das Pewtschich fluchtartig verlassen hatte. Das lässt sich laut Spiegel ebenso rekonstruieren, wie die Telefonate seiner Kollegen mit Kommando-Chef Makschakow.
Drei Tage später folgt das Trio dem Nawalny-Team ins 250 Kilometer entfernte Tomsk. Derweil haben Tajakin und Kudrjawzew ein anderes Ziel: Sie begeben sich am 18. August für einen Kurztrip von Moskau nach Sotschi. Der Spiegel mutmaßt, dass sich der FSB am Schwarzen Meer die Genehmigung für den Einsatz des Nervengifts Nowitschok eingeholt haben könnte.
Hintergrund: Schon zuvor reisten Agenten des Teams nach Sotschi. Im Sommer soll sich Putin häufiger dort aufhalten. Zudem müssten hochrangige Kreml-Mitglieder in einem dortigen Krankenhaus ihre Quarantäne verbringen, bevor sie den Staatschef aufsuchen.
Nawalny-Vergiftung durch FSB? Statt Bloody Mary gibt es einen merkwürdig schmeckenden Negroni
Nawalny ahnt von alldem nichts. Er verbringt die letzte Stunde des 19. August - dem Abend vor dem Tag, an dem er in einem Flugzeug plötzlich zusammenbricht - in der Hotelbar. Zunächst wundert es ihn nicht, dass hinter dem Tresen mehr Männer als nötig herumlaufen.
Rückblickend jedoch verlief vor allem die Begegnung mit einem Bar-Keeper auffällig. Nawalnys Bestellung einer Bloody Mary soll dieser wenig gastfreundlich abgelehnt haben. Der prominente Besucher erinnert sich an die aus nur einem Satz bestehende Antwort: „Ich kann diesen Cocktail nicht für Sie machen.“
Negroni lautete die Alternative - doch diese aus Italien bekannte Mischung mit Gin und Wermut sagte Nawalny ganz und gar nicht zu. Mit dem Wissen von heute lässt sich zumindest nicht ausschließen, dass der Putin-Gegner in diesem Moment das Gift zu sich nahm. Allerdings sollte erwähnt werden, dass Nawalny das Gesicht jenes Cocktail-Zubereiters unter denen der FSB-Mitarbeiter laut Spiegel nicht wiedererkannt habe.
Nawalny-Vergiftung durch FSB? Agenten telefonieren am Tag vor dem Zusammenbruch des Kreml-Kritikers
Sicher ist jedoch, dass sich Alexandrow um 0.48 Uhr in dieser Nacht nahe Nawalnys Hotel befindet. Zu dieser Zeit stellt der Geheimdienstmitarbeiter sein Handy an und ist somit einmal mehr zu orten. Schon zuvor werden mehrere Telefonate unter den Mitgliedern des Kommandos registriert.
Zwar vermuten Experten, dass das Gift auf Nawalnys Gürtel oder in seiner Unterhose aufgetragen worden sein könnte. Die zunächst aufgekommene Spekulation, ein in einem Flughafen-Café getrunkener Tee könne das Unheil über den Kreml-Kritiker gebracht haben, ist mittlerweile widerlegt. Und da kommt Pewtschich wieder ins Spiel.
Geistesgegenwärtig nahm die eine von Nawalny im Hotelzimmer in Tomsk zurückgelassene Wasserflasche mit. Auf dieser konnten letztlich die Nowitschok-Reste nachgewiesen werden. Womit wohl auch der letzte Teil der FSB-Mission zu einem Fehlschlag mutiert sein dürfte.
Nawalny-Vergiftung durch FSB? Mehrere Agenten reisen spontan in den Süden Russlands
Denn nachdem der Flieger nach Moskau mit dem in Todesängsten um Hilfe schreienden Nawalny trotz Landeverbots am Flughafen Omsk aufgesetzt hat, machen sich vier der Agenten auf den Weg ins sibirische Gorno-Altajsk, ergeben die Recherchen des Netzwerks. Das Verfolgertrio storniert dafür die Flüge in die Hauptstadt, Tajakin startet von dort.
Was sie in den tiefen Süden Russlands getrieben hat? Die Universitätsstadt Bijsk beherbergt das „Institut für Probleme chemischer und energetischer Technologien“. Dort arbeiten dem Spiegel zufolge Wissenschaftler, die Nowitschok-Spuren verwischen können. Und obendrein wissen, wie lange das Gift im menschlichen Körper auffindbar ist.

Nawalny-Vergiftung durch FSB? Ärzte lassen Koma-Patienten erst mit Verzögerung nach Berlin ausfliegen
Derweil spielen die Nawalny behandelnden Ärzte - auf Druck aus dem Kreml? - auf Zeit und machen der Welt weis, dass der Patient nicht so zeitig nach Berlin verlegt werden könne. Womöglich wegen der Befürchtung, dass sich das Gift zunächst noch aufspüren ließe.
Das war nach der Ausreise des im Koma befindlichen Oppositionellen offenbar nicht mehr möglich. Doch mit Pewtschich und der Wasserflasche hatte das FSB-Kommando wohl nicht gerechnet.
Nawalny-Vergiftung durch FSB? Genannte Agenten haben besondere Spezialgebiete vorzuweisen
Die Spezialgebiete der Mitglieder lagen ja auch ganz woanders. So hätten dich Recherchen ergeben, dass die acht Männer allesamt in „Jobs mit medizinischem oder chemischen Bezug“ arbeiteten oder „russischen Spezialkampftruppen zugeordnet“ waren. Wahrscheinlich kein Zufall.
Auch für Nawalny reichen diese Indizien aus, um die im Geheimen agierenden Schuldigen, die ihm nach dem Leben trachteten, ans Tageslicht zu zerren. Im Spiegel spricht er von „Staatsterrorismus per Definition“.
Doch klein beigeben wird Nawalny auf keinen Fall. Nein, er will seinen Feinden vor Augen führen, dass sie versagt haben. (mg)