Nun droht der größte Bundestag aller Zeiten

Das komplexe Wahlrecht reformieren? Das haben Union und SPD mit Erfolg vertrödelt. Nun droht der größte Bundestag aller Zeiten. Schräg: Joachim Herrmann könnte als Spitzenkandidat der CSU ohne Sitz bleiben.
München – Momentan ist keine Stelle ausgeschrieben, aber die Saaldiener des Bundestags dürften ab Oktober nichts gegen zusätzliche Unterstützung haben. Zuletzt betreuten die befrackten Damen und Herren 630 Abgeordnete, deren Namen sie jederzeit parat haben sollten. Nun spricht viel dafür, dass die Saaldiener ihr Namensgedächtnis ab Herbst noch mehr strapazieren müssen.
„Ich rechne mit 660 bis 670 Abgeordneten im nächsten Bundestag“, sagt Joachim Behnke, Professor für Politikwissenschaft in Friedrichshafen. „Es könnte der größte Bundestag aller Zeiten werden.“ Der bisherige Höchstwert liegt bei 672 Abgeordneten, nach der Bundestagswahl 1994.
Bundestagswahl 2017: Warum gibt es im Herbst so viele Abgeordnete?
Der Grund für die erwartete Vergrößerung ist das komplizierte Wahlrecht. Eigentlich soll das Parlament aus 598 Abgeordneten bestehen. 299 Direktkandidaten über die Erststimmen, 299 Listenkandidaten über die Zweitstimmen. Allerdings gibt es seit Beginn der Bundesrepublik sogenannte Überhangmandate. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktkandidaten über die Erststimme ins Parlament bringt, als ihr nach der Verteilung der Zweitstimmen zusteht. Auch um diese Verzerrung auszugleichen, gibt es seit 2013 sogenannte Ausgleichsmandate. Eine Übersicht, welche Parteien zur Bundestagswahl 2017 antreten, finden Sie hier.
Das ist gut gemeint, aber genau hier beginnt das Problem, das selbst manchen Politiker an die Grenze seiner mathematischen Fähigkeiten bringt. Denn ein Überhangmandat bedeutet mehrere Ausgleichsmandate. Schätzungen zufolge dürfte die CDU am 23. September gut 20 Überhangmandate erringen, die wiederum gut 60 Ausgleichsmandate nach sich ziehen würden.
Verschwendung von Steuermitteln
Wahlrecht-Experte Behnke sieht ein größeres Parlament kritisch. „Der Bundestag wird durch zusätzliche Abgeordnete nicht besser. Er wird nur teurer. Und das ist natürlich eine Verschwendung von Steuermitteln.“ Ein Mandat soll Schätzungen zufolge pro Legislaturperiode zwei Millionen Euro kosten.
Auch deshalb ploppte das Thema in den vergangenen Jahren immer wieder auf. Der noch amtierende Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erklärte, nicht einmal eine Handvoll Abgeordnete könne die Mandatsberechnung „unfallfrei“ erklären. Er plädierte für eine grundsätzliche Deckelung auf 630 Abgeordnete. Weil davon aber vor allem die Union profitiert hätte, stellte sich die SPD quer. Mit eigenen Vorschlägen hielten sich die Genossen dagegen zurück. Um schließlich in Gestalt der Fraktionsgeschäftsführerin Christine Lambrecht im März mitzuteilen, dass man gegen Schnellschüsse sei.
Auch eine vom Bund der Steuerzahler initiierte Petition mit gut 114.000 Unterschriften blieb ergebnislos. Politologe Behnke warnt nun: „Ein aufgeblähter Bundestag beschädigt die Glaubwürdigkeit des Parlaments. Das müssten die Parteien eigentlich auch wissen.“
Müsste, hätte, eigentlich. Offenbar wollten sich Union und SPD nicht um zusätzliche Mandate durch die Hintertür bringen. Zumal diese ohnehin nicht verhindern dürften, dass die Fraktionen der beiden Parteien schrumpfen. In einem Sechs-Parteien-Parlament könnte allein die CDU rund 50 Mandate verlieren, wenn die derzeitigen Umfragewerte stimmen.
Eine weitere Tücke des Wahlrechts könnte in gut drei Wochen bei der CSU für lange Gesichter sorgen. Gewinnt die Partei wie zuletzt alle Direktmandate, bleibt aber bei den Zweitstimmen unter 47 Prozent, dürften keine Listenkandidaten der Partei zum Zuge kommen. Das würde ausgerechnet den prominentesten Kandidaten treffen. Der als Bundesinnenminister gehandelte Joachim Herrmann thront zwar auf Listenplatz eins – bliebe aber ohne Abgeordnetenmandat.
Wahlhilfe: Hier finden Sie den Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl 2017
Von Maximilian Heim