Großer Theologe, aber scheuer Mensch: Für einst gefeierten Papst legte sich Schatten auf sein Lebenswerk

Der Silvestertag wird für viele Katholiken nun immer mit dem Abschied von Benedikt XVI. verbunden sein. Joseph Ratzinger ist am 31. Dezember um 9.43 Uhr gestorben. Vielerorts läuteten die Glocken – in Erinnerung an den ersten deutschen Papst nach fast 482 Jahren.
Vatikanstadt/München – „Jesus, ich liebe dich“: Das sollen die letzten Worte gewesen sein, die Benedikt XVI. über die Lippen brachte, bevor er am Samstagmorgen nach Tagen der Sorge um ihn friedlich einschlief. In Marktl am Inn (Kreis Altötting), wo er in der Osternacht vor 95 Jahren zur Welt gekommen ist, soll um Benedikts Todesstunde ein Regenbogen zu sehen gewesen sein. Kaum ist er von dieser Welt geschieden, setzt auch schon eine Legendenbildung um den Mann ein, der von 2005 bis 2013 die Weltkirche geleitet hat.
Aus dem Kloster Mater Ecclesiae dringen Informationen von Benedikts Vertrauten an die Öffentlichkeit. Der ehemalige Papst liege aufgebahrt in seinem Schlafzimmer, die Ordensfrauen und sein treuer Sekretär Georg Gänswein beteten an seinem Bett. „Er ist, wie man so sagt, entschlafen“, sagte einer der Anwesenden der Deutschen Presse-Agentur. Und er wirke jetzt sehr friedvoll.
Mit seinem Rücktritt sorgte er für einen Paukenschlag
Seit seinem spektakulären Rücktritt am Rosenmontag 2013 hatte sich Benedikt XVI. in das Kloster Mater Ecclesiae in den Vatikanischen Gärten zurückgezogen, im Schatten des Petersdoms. Gänzlich abgeschieden als Eremit hatte er seine letzten fast zehn Jahre allerdings nicht gelebt. Als Papst emeritus im weißen Gewand war er immer wieder in der Öffentlichkeit zu sehen gewesen. Mal hatte ihn Papst Franziskus zur Kardinalsernennung eingeladen. Mal zeigte er sich mit Besuch aus der Heimat. In den letzten Jahren war es allerdings ruhiger um Benedikt geworden. Er wurde gebrechlich, seine Stimme immer leiser. Größere Berichterstattung gab es zum 90. Geburtstag, den der Oberbayer am 19. April 2017 feierte – und wo Bayerns damaliger Ministerpräsident Horst Seehofer mit einer kleinen Feier-Schar sowie den unverzichtbaren Gebirgsschützen dem Jubilar bayerisches Flair ins Eremitenleben zauberte. Und im Juni 2020, als er kurz entschlossen seinen geliebten Bruder Georg in Regensburg besuchte, als dieser im Sterben lag. Unvergessen die Bilder von dem zerbrechlich wirkenden Mann im Rollstuhl am Grab seiner Eltern. Es sollte sein letzter Besuch in der Heimat sein.
Die Herren Kardinäle haben mich gewählt, einen einfachen und bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn.
In den letzten Jahren musste sich das frühere Kirchenoberhaupt mit einem dunklen Kapitel der Kirchengeschichte auseinandersetzen: dem Missbrauchsskandal. Auch ihm selbst wird vorgeworfen, als Erzbischof von München und Freising Täter geschützt zu haben. In einem öffentlichen Brief entschuldigte sich Benedikt XVI. bei allen Opfern. Er werde bald „vor seinen ewigen Richter“ treten, schrieb er vielsagend.
In kirchenpolitischen Äußerungen hatte sich Benedikt XVI. Enthaltsamkeit auferlegt. Hier und da wurden ihm Versuche der Einflussnahme vorgeworfen – etwa auf die Familiensynode 2014/2015. Er hat sie stets dementiert. Auch dass sein Nachfolger Franziskus den von Benedikt zum obersten Glaubenshüter ernannten Gerhard Ludwig Müller nach fünf Amtsjahren ins Leere laufen ließ, konnte er nicht verhindern.
Nach haarsträubenden Intrigenspielen im Vatikan hatte „Vater Benedikt“ keine Kraft mehr
Alle Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit seinem Rücktritt hat Benedikt XVI. zurückgewiesen. „Es gibt nicht den geringsten Zweifel an der Stichhaltigkeit meines Rücktritts“, fühlte er sich im Februar 2014 genötigt zu betonen. „Die einzige Voraussetzung für die Stichhaltigkeit ist die volle Freiheit meiner Handlung. Spekulationen hinsichtlich der Ungültigkeit des Rücktritts sind einfach absurd.“ Nicht zuletzt wusste der Deutsche, dass Franziskus alle Kraft braucht, um in der Glaubwürdigkeitskrise das Kirchenschiff wieder auf Kurs zu bringen. Wie schwierig das ist, davon kann Papst Franziskus ein Lied singen. Immer wieder werden seine Reformbemühungen von Kurien-Mitarbeitern durchkreuzt.
Benedikt wusste, dass er einer solchen Mammutaufgabe nicht gewachsen sein würde. Nach haarsträubenden Intrigenspielen im Vatikan hatte „Vater Benedikt“ keine Kraft mehr, um die notwendigen Veränderungen anzugehen. Er wusste auch wohl nicht mehr, auf wen er sich innerhalb der vatikanischen Mauern verlassen konnte. Der brillante Theologe verfügte ohnehin nicht über eine ausgeprägte Menschenkenntnis.
Was war das für ein Fest gewesen in Deutschland, als Joseph Ratzinger zum Papst wurde
Was war das aber für ein Fest gewesen in Deutschland, vor allem aber im heimischen Bayernland, als am 19. April 2005 Kurienkardinal Joseph Ratzinger, der langjährige Glaubenspräfekt und frühere Erzbischof von München und Freising, zum Papst gewählt worden war. Selbst viele langjährige Kritiker, die sich an dem harten „Panzerkardinal” und strengen Glaubenswächter abgearbeitet hatten, zeigten sich auf einmal überrascht von dem bescheidenen, demütig wirkenden alten Herrn von damals 78 Jahren, der nach seiner Wahl auf den Balkon am Petersdom trat und mit leiser Stimme sagte: „Nach dem großen Papst Johannes Paul II. haben die Herren Kardinäle mich gewählt, einen einfachen und bescheidenen Arbeiter im Weinberg des Herrn.“ Aber er sprach damals auch davon, dass ihm, als die Abstimmungen ihm klarmachten, „dass sozusagen das Fallbeil auf mich herabfallen würde“, ganz schwindlig zumute war. Deutschland aber, vor allem Bayern, feierte „seinen Papst“. Das anschließende fast achtjährige Pontifikat Benedikts war geprägt von theologisch anspruchsvollen Texten und Enzykliken – über Liebe, Hoffnung und Glaube. Und von seinem Buch über Jesus. Schon als Professor hatte Ratzinger zu den produktivsten Theologen gehört. Seine Werke zählen bis heute zur Pflichtlektüre eines jeden Theologiestudenten. Sie sind durchzogen von seinen Warnungen über eine säkularisierte Welt, die Gottvergessenheit.
Durch Pannen und Skandale wurde die Last auf seinen Schultern zu schwer
Was viele Kritiker als Weltflucht anprangerten, betrachten seine Bewunderer als regelrecht prophetisch. Der bayerische Theologe, dieser brillante Analytiker und etwas scheue Mensch, hatte frühzeitig messerscharf erkannt, dass die jahrhundertelange Autorität der katholischen Kirche gefährlich bröckelt. Als dann während seines Pontifikats vermeidbare Pannen passierten – wie die Rücknahme der Exkommunikation der Piusbrüder und der in seinen Folgen bis heute unermessliche Glaubwürdigkeitsverlust durch den Missbrauchsskandal, wurde die Last auf seinen schmalen Schultern zu schwer. Die schwindelerregenden Skandale im Vatikan mit Geheimnisverrat und gestohlenen Dokumenten vom Papst-Schreibtisch sowie undurchschaubaren Finanzgeschäften – das war zu viel für einen Oberbayern, der am liebsten in seiner Studierstube saß, hochgeistige Schriften verfasste und zur Entspannung am Klavier Mozart spielte. Schon zu Lebzeiten seines Vorgängers Johannes Paul II. hatte Ratzinger von einem Ruhestand geträumt. Von freier Zeit, die er mit seinem drei Jahre älteren Bruder Georg hätte verbringen wollen. Von theologischen Büchern, die er noch gerne schreiben wollte. Doch weder gestattete ihm der polnische Papst einen Rückzug, noch entließ ihn das Kardinalskollegium bei der Wahl 2005 in die Freiheit. Er war ihr Garant für Kontinuität an der Kirchenspitze.

Mit seinem spektakulären Rücktritt 2013 schließlich sorgte Benedikt für einen Paukenschlag zum Ende seines Pontifikats. Das bis dahin Unvorstellbare hat er damit zur künftigen Möglichkeit umgewandelt. Auch sein Nachfolger Papst Franziskus hat schon die Bemerkung fallen lassen, dass er sich einen Rücktritt angesichts schwindender Kräfte vorstellen könnte.
Benedikt XVI. sind als Papa emeritus noch einige Jahre des Gebets und der Erholung geschenkt worden. Er empfing immer mal wieder Besuch. Auch der Münchner Kardinal Reinhard Marx schaute hie und da vorbei, diskutierte mit Benedikt über philosophische Feinheiten, sicher auch über kirchenpolitische Fragen. Aber je stärker der Münchner Kardinal in die Führungsgruppe um Papst Franziskus eingebunden wurde, desto seltener wurden die Begegnungen mit Benedikt.
Einige Veröffentlichungen in seinem „Ruhestand“ indes sorgten für Unruhe in der Kirche – selbst wenn sie, wie es heißt, jeweils mit Franziskus abgesprochen waren. Der Emeritus konnte nicht verhindern, dass er von vermeintlichen Freunden instrumentalisiert wurde.
Obwohl Benedikt bis zum Ende seiner Amtszeit an die 400 Priester wegen sexuellen Missbrauchs absetzte, zahlreiche Bischöfe wegen Vertuschung zum Rücktritt zwang und Missbrauchsbetroffene mehrfach für die Kirche um Vergebung bat, konnte er den Schatten auf seinem Lebenswerk nicht beiseiteschieben. Persönliche Verantwortung wollte er nicht übernehmen. Darüber wird die Geschichte urteilen – und im Verständnis gläubiger Katholiken nun der Herrgott.