Putin-Rede: „Genau die Formulierung aus der Nukleardoktrin“ - Experte sieht „Restrisiko“ für Atomschlag

Nach einem Jahr Ukraine-Krieg sieht Politologe Gerhard Mangott keine Perspektive auf ein Ende – und unter bestimmten Bedingungen das Risiko eines russischen Atomwaffen-Einsatzes.
Moskau/Kiew - Heute vor einem Jahr erwachte die Welt mit einem Schock: Russland war in der Nacht in die Ukraine einmarschiert und bombardierte das Land. Menschen flüchteten in Luftschutzbunker, es gab erste Tote. Seitdem reißt Russlands Kriegstreiben in der Ukraine nicht ab, mit einer schrecklichen Bilanz: Unzählige Tote, Obdachlose und Geflüchtete, zerstörte Städte und Dörfer, eine zerbombte Infrastruktur.
Wie geht es im Ukraine-Krieg nach diesem ersten Jahr weiter? Eskaliert der Konflikt noch mehr? Wird Russlands Präsident Wladimir Putin irgendwann zu Atomwaffen greifen? Oder gibt es doch eine friedliche Lösung? Antworten gibt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck im Interview.
Herr Mangott, Putin hat vor dem Jahrestag des Ukraine-Kriegs am Dienstag eine lange Rede zur Lage der Nation gehalten. Welche Botschaft ist Ihnen dabei aufgefallen?
Bemerkenswert fand ich, dass Putin gesagt hat, der Westen wolle aus dem lokalen Konflikt in der Ukraine einen internationalen Konflikt machen und bringe dadurch „die staatliche Existenz Russlands in Gefahr“. Das ist genau die Formulierung, die auch in der russischen Doktrin zum Einsatz von Nuklearwaffen steht. Und zwar als eine der Bedingungen, wann Russland auch in einem konventionellen Krieg Atomwaffen einsetzen darf.
Lässt sich daraus ableiten, dass Putin bald zu taktischen Atomwaffen im Ukraine-Krieg greifen wird?
Nun ja, es war ja nicht das erste Mal, dass der Kreml mit Atomwaffen gedroht hat. Aber ich fand es schon bemerkenswert, dass Putin genau die Formulierung aus der Nukleardoktrin verwendet hat. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Russland Atomwaffen einsetzt, aber möglich. Ein Risiko dafür besteht, denke ich, vor allem bei ukrainischen Angriffen auf die Halbinsel Krim. Eine Rückeroberung der Krim würde den Sturz Putins bedeuten und das will er unbedingt verhindern. Sollte die Krim gefährdet sein, würde ich nicht ausschließen, dass Putin taktische Atomwaffen einsetzt.
Putins Atomwaffen-Drohungen nur ein Bluff? „Das Restrisiko ist zu hoch“
Wenn diese Gefahr besteht, was folgt daraus für den Westen?
Im Westen gibt es im Grunde genommen zwei Lager. Das eine Lager denkt, Putins Drohung mit Atomwaffen ist nichts als ein Bluff und er macht das nur, um Angst zu schüren. Trotz solcher Drohungen müsse die Ukraine so bewaffnet werden, dass sie auch die Krim zurückerobern kann. Daraus würde wohl der Sturz Putins folgen, was dann sozusagen das Sekundärziel ist. Das andere Lager glaubt, Atomwaffen-Drohungen könnten ein Bluff sein, aber wir können es nicht drauf ankommen lassen, falls es nicht so ist. Denn das Restrisiko, falls Putin den Worten doch Taten folgen lässt, ist zu hoch. Deshalb dürfe man die Ukraine nicht dazu befähigen, die Krim zurückzuerobern.
Gehören Sie einem dieser beiden Lager an?
Ich tendiere zum zweiten Lager.
Gibt es deshalb Ihrer Ansicht nach rote Linien bei der Unterstützung der Ukraine?
Es ist meiner Meinung nach wichtig, dass wir die Frage, welche Waffen wir der Ukraine liefern wollen, immer mit der Frage verbinden, wozu wir die Ukraine damit militärisch befähigen wollen. Es gibt Staaten, die sagen, es muss der Zustand vom 23. Februar 2022 wiederhergestellt werden, und es gibt Staaten, die den Zustand vor der russischen Besetzung der Krim 2014 wiederherstellen wollen.
Wie geht der Ukraine-Krieg weiter? „Putin glaubt an einen langen Krieg und hofft sogar darauf“
Der Ukraine-Krieg dauert nun schon genau ein Jahr. Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen?
Es wird sehr wahrscheinlich bald eine große russische Offensive geben, im Wesentlichen wohl in der Provinz Donezk. Dort kontrolliert die Ukraine immer noch über 40 Prozent des Territoriums. Auch in der Region Luhansk wird Russland die Gebiete zurückerobern wollen, die die Ukraine zwischenzeitlich wieder für sich gewinnen konnte. Die Eroberung des Donbass ist ein erklärtes Ziel Russlands im Ukraine-Krieg, deshalb müssen diese Gebiete aus Sicht Putins auf jeden Fall gewonnen werden. Wann die russische Offensive mit voller Wucht auftreten wird, kann niemand genau sagen, wahrscheinlich innerhalb der nächsten Wochen. Eine ukrainische Gegenoffensive ist nicht zu erwarten, solange die Ukraine keine hohe Zahl westlicher Kampfpanzer besitzt.
In seiner Rede zur Lage der Nation hat Putin nicht gesagt, was genau seine Ziele im Ukraine-Krieg sind.
Nein, aber er hat gesagt, wir werden konsequent, Schritt für Schritt unsere Ziele verfolgen. Das deutet darauf hin, dass Putin an einen andauernden, langen Krieg glaubt und sogar darauf hofft. Die Hoffnung auf russischer Seite ist, dass der Westen die Ukraine zu Friedensverhandlungen drängt, wenn er Krieg noch ein Jahr oder sogar länger dauert, und dass die westliche Unterstützung nachlässt. Oder dass es zumindest eine Spaltung des Westens geben wird. Und zwar in die osteuropäischen und nordischen Länder einerseits, die weiter Unterstützung fordern, und Deutschland und Frankreich andererseits. Dort gibt es innenpolitischen Druck, dass die Hilfe für die Ukraine nachlässt, und es existiert die Forderung nach Verhandlungen.
Lösung im Ukraine-Krieg? „Verhandlungen derzeit keine Option“
Wie stufen Sie die Chance für Friedensverhandlungen ein?
Für Verhandlungen gibt es derzeit keinen Spielraum. Wenn Leute das fordern, muss man ihnen antworten, dass das derzeit nicht als Option zur Verfügung steht. Das wäre erst der Fall, wenn beide Seiten militärisch erschöpft und zu Verhandlungen gezwungen sind. Das ist derzeit weder bei der russischen noch bei der ukrainischen Seite der Fall.
Interview: Stephanie Munk
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