Zwingt Putin Belarus in den Ukraine-Krieg? Was für und gegen eine gefährliche Lukaschenko-Wende spricht

Belarus spricht von einer möglichen „Provokation“ der Ukraine. Lässt sich Lukaschenkos Regime in Russlands Krieg ziehen? Es gibt widersprüchliche Zeichen.
Minsk/Moskau – Es war am Donnerstag (29. Dezember) eine kurze Schrecksekunde im Ukraine-Krieg – womöglich aber am Rande auch ein Indiz für kommende Entwicklungen: Belarus meldete den Einschlag einer ukrainischen Rakete auf seinem Staatsgebiet.
Schon seit Wochen gedeihen Spekulationen über einen möglichen Kriegseintritt des Regimes von Alexander Lukaschenko. Und Kriegserklärungen waren in der Geschichte schon aus geringen Anlässen konstruiert worden. Belarus reagierte zunächst vorsichtig. Am Freitag (30. Dezember) legte Minsk aber nach: Luftabwehr-Chef Kirill Kasanzew wollte einen absichtlichen Schlag nicht ausschließen: „Entweder wurde die ungelenkte Flugabwehrrakete wegen der schlechten Ausbildung der Mannschaft unabsichtlich abgefeuert, oder die Rakete war defekt, oder aber es handelt sich um absichtliche Provokation der ukrainischen Streitkräfte“, sagte er.
Für Entwarnung ist es wohl zu früh: Die Experten des US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) halten einen Kriegseintritt Belarus‘ zwar für sehr unwahrscheinlich, aber nicht gänzlich ausgeschlossen. Für etwas realistischer halten sie eine neue Invasion Russlands gen Kiew von Lukaschenkos Territorium aus – und das wiederum für ein Worst-Case-Szenario für die Ukraine. Indizien für und gegen neues Ungemach aus Belarus im Überblick:
Lukaschenkos Belarus im Ukraine-Krieg: Was für einen Kriegseintritt spricht
- Das Militär von Belarus und Russland arbeitet zusammen: Schon vor Wochen hatten Russland und Belarus gemeinsame Manöver und Einheiten beschlossen. Erst am Donnerstag teilte Sergej Schoigus Verteidigungsministerium laut ISW wieder Bilder von Übungen in Belarus.
- Ukraine sieht massive russische Militär-Ausbaupläne in Belarus: Der ukrainische Generalstabs-Vize Oleksij Gromow urteilte am Donnerstag, Russland wolle einen Luftwaffenstützpunkt in Belarus zu einem Logistik-Drehkreuz ausbauen. Es seien „unspezifische Arbeiten“ im Gange, sagte er den Experten zufolge. Für eine direkte Involvierung müsse das allerdings nicht sprechen: Die Maßnahme könne auch „langfristig“ der Präsenz Russlands in Belarus dienen.
- Experten schließen ukrainischen Schlag gegen Belarus nicht aus: Der Raketen-Fund vom Donnerstag könnte tatsächlich ein Versehen gewesen sein – die Ukraine bot Minsk Hilfe bei der Aufklärung an. Das ISW schließt aber einen absichtlichen Schlag ebenfalls nicht aus: Es sei unklar, ob es sich womöglich um eine „Antwort“ auf russischen Beschuss aus Belarus gehandelt habe. Die Ukraine hatte am Donnerstag offenbar auch Ziele in Russland attackiert. Wie Lukaschenko auf solche Attacken reagieren würde, ist schwer zu beurteilen.
- Möglicher Druck von Putin: Offizielle Angaben über Forderungen aus Moskau an Lukaschenkos Adresse gibt es nicht. Der ukrainische Militär-Kommandeur Serhij Naiew hatte vor Putins letztem Besuch in Minsk gewarnt, der Kreml werde Belarus wohl zur Beteiligung auffordern. Auch der ukrainische Geheimdienstchef Andrij Jusow hatte Anfang Dezember erklärt, Russland dränge den Nachbarn permanent – wenn auch bislang ohne Erfolg.
Belarus als Startpunkt für eine neue russische Invasion in die Ukraine:
- Russland schickt weiter Soldaten und Material nach Belarus: In den sozialen Netzwerken kursierten zuletzt Aufnahmen von mit militärischem Material beladenen russischen Zügen – laut Geocheckern auf dem Weg Richtung Westen und Belarus. Belarussische Beobachter sehen solche Bewegungen nach eigenen Angaben schon seit längerer Zeit.
- Ukraine warnt vor Vorbereitungen für eine Invasion: Kurz vor Weihnachten hatte der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow nicht ausgeschlossen, dass Russland eine Offensive von Belarus aus vorbereitet – wenngleich es dafür noch keine konkreten Zeichen gebe. Schon kurz zuvor hatte Resnikow allgemeiner vor einer neue russischen Offensive etwa zwischen Januar und März gewarnt. Einig sind sich die Stimmen aus der Kiewer Regierung aber nicht: So hieß es durchaus auch, eine Drohkulisse auf belarussischem Gebiet diene vor allem dazu, die Moral der Ukraine zu schwächen.
- Vage Anzeichen für Kriegsvorkehrungen: Wenngleich das ISW aktuell die Gefahr einer Offensive aus Belarus für gering hält – Anzeichen vermeldeten die Experten bereits. Darunter ein neu eingerichtetes Feldlazarett in Grenznähe. „Feldhospitäler sind nicht notwendig für Übungen und können ein Hinweis auf die Vorbereitung von Kampfhandlungen sein“, schrieb das ISW am 23. Dezember.
Lukaschenko in Belarus unter Druck – und Russland zu schwach? Argumente gegen eine Eskalation
- Zu wenig Personal für einen neuen Einmarsch: Gromow hält selbst ein Bündnis aus belarussischen und russischen Einheiten für zu schwach für einen Marsch gen Kiew – jedenfalls nach aktuellem Stand. Zusammengenommen verfüge die „Union“ über 30.000 Soldaten in der Gegend. Nach ukrainischer Einschätzung verfügt Belarus über maximal 10.000 bis 15.000 Mann. Im Februar seien noch 45.000 Kämpfer an der Grenze bereit gestanden. Und gescheitert. Das ISW mahnt allerdings zur Vorsicht: Die Stärke von Kriegsbeginn sei nicht zwingend notwendig. Russland könne auch der Illusion erliegen, ein Vormarsch könne diesmal mit weniger Personal glücken.
- Lukaschenko könnte seine Bürger fürchten – ebenso wie Putin: Der belarussische Machthaber hat immer wieder einen Kriegseintritt dementiert. Womöglich auch, weil ein Kriegseinsatz die Bevölkerung erneut aufbringen könnte - Experten der Denkfabrik „Chatham House“ gehen von einem Kriegsgegner-Anteil von 90 Prozent in Belarus aus. Von einem mutmaßlichen Geheimdienst-Whistleblower hieß es zuletzt gar, Lukaschenko habe womöglich Geheimnisse an die Ukraine gegeben, um einen Kriegseintritt vermeiden zu können. Gegen „Eisenbahn-Partisanen“ im Land hat die belarussische Justiz zuletzt zwar harte Hand gezeigt. Doch direkte Hilfe könnte das Regime in Schwierigkeiten bringen. Und das wäre wohl auch nicht in Putins Sinne, wie Welt-Korrespondent Pavel Lokshin zuletzt mutmaßte.
- Militärbewegungen als Ablenkungsmanöver: Der ukrainische Militärgeheimdienstchef Kirill Budanow behauptete am Donnerstag in einem BBC-Interview, dass kürzlich ein Zug mit russischen Soldaten nahe der Grenze zwischen Belarus und der Ukraine angehalten habe und einige Stunden später weitergefahren sei – ohne dass ein einziger Soldat ausgestiegen sei. Die Vorgänge an der Grenze hält die Ukraine auch aufgrund solcher Vorfälle bislang eher für „Ablenkungsmanöver“. Das Ziel wäre in diesem Fall wohl, die Ukraine zu Vorkehrungen an der Nordgrenze zu bringen – und so an anderen Fronten zu schwächen. Das mutmaßte der ukrainische Militärexperte Oleg Schdanow auch schon im Sommer.
- Dementis von Lukaschenko und Putin: Gespräche zwischen Putin und Lukaschenko hatten zuletzt Befürchtungen befeuert. Zumindest offiziell wiesen beide Seiten Spekulationen über einen Kriegseintritt Belarus‘ zurück. Lukaschenko selbst sprach laut der Agentur Reuters von „Verschwörungstheorien“ – wies aber auf mögliche Angriffe von „Nachbarn“ hin. Möglicherweise ein Indiz dafür, dass er seine Truppen im Land halten will. Auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow verurteilte „haltlose“ Mutmaßungen. Spätere kamen aus dem Kreml noch härtere Worte unter anderem an Deutschlands Adresse. Sorgen seien „dumm und unbegründet“.
(fn)