„Putin ist ein Idiot“: Privatgespräche von russischen Soldaten an der Front lassen tief blicken
Die ukrainische Regierung hat Tausende Telefonate von russischen Soldaten mitgeschnitten. Sie befanden sich im Kampf um Kiew. Ihre Auswertung zeichnet ein Bild der Misere.
München - Dass den Truppen von Wladimir Putin die Einnahme von Kiew gründlich misslang, ist für viele Beobachter inzwischen abgehakt. Ihr Fokus liegt im Ukraine-Krieg mittlerweile auf den Rückeroberungen der Kämpfer für Wolodymyr Selenskyj – und dem offenbar miserablen Zustand des russischen Militärs. Die russischen Soldaten waren aber bereits vor mehr als einem halben Jahr ramponiert. Das legen nun von der New York Times (NYT) veröffentlichte Telefonate nahe.
Die US-Zeitung gelangte nach eigenen Angaben an Aufzeichnungen von Tausenden Anrufen aus der Region Kiew im März 2022. Aufgezeichnet hatte sie die Regierung in Kiew, getätigt wurden sie von russischen Soldaten. Sie klingelten von ihren Mobiltelefonen von der Front die meilenweit entfernten Ehefrauen, Freundinnen oder Eltern an. Offiziell erlaubt war das nicht.

„Putin ist ein Idiot“ war dabei noch eines der netteren Urteile der Soldaten. Die NYT ließ die Echtheit der Anrufe von Reportern prüfen, welche die Mobilfunknummern mit Messenger- sowie Social-Media-Profilen verglichen. Die Zeitung transkribierte die Anrufe dann für gut zwei Monate. Anschließend fasste sie diese stellenweise zusammen oder stellte missverständliche Begrifflichkeiten klar.
Russische Soldaten im Ukraine-Krieg über Putin: „Er ist ein Idiot“
Das Ergebnis: Die zahlreichen anrufenden Soldaten gewähren mit ihren Privatgesprächen Einblicke in ein „militärisches Durcheinander bereits wenige Wochen nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine“, schreibt die NYT. Mangelnder Kampfwille, mangelndes Equipment, mangelndes Bewusstsein darüber, auf welche Mission sie geschickt wurden – das alles hat jetzt wohl zu den Erfolgen der Ukraine bei ihren Rückeroberungen beigetragen. Es war aber offenbar von Anfang an ein Problem.
Die NYT fand in den Soldaten-Telefonaten vom März 2022 folgende Aussagen mehrfach:
- Kritik an den Fähigkeiten der militärischen Vorgesetzen
- Kritik an gestörten Lieferketten für ihre Versorgung, mit Folgen wie etwa Erfrierungen, Hunger und Schlafstörungen
- Geständnisse, dass sie in der Ukraine auch Zivilisten töteten
- Plünderungen von privaten Häusern und Supermärkten
- Den Wunsch, ihren Vertrag zu kündigen oder zu desertieren
Außerdem äußerten mehrere Soldaten Widerwillen gegen die russische Propaganda über die „militärische Spezialoperation“, viele von ihnen hatten allerdings Angst, bei Kritik am Kreml verfolgt und in Haft genommen zu werden.
Mutter, wir haben hier bisher nicht einen einzigen Faschisten gesehen... dieser Krieg wird unter falschem Vorwand geführt. Die Leute leben normal. Eben wie in Russland. Und nun müssen sie in Kellern leben. Kannst Du Dir das vorstellen?
Stimmung eines russischen Soldaten im Ukraine-Krieg: „Das hier ist ein Albtraum“
Die NYT nennt die zitierten Soldaten nicht namentlich oder höchstes mit Vornamen. Einer sagte Angehörigen: „Meine Kameraden haben einem ukrainischen Kämpfer die Waffen geklaut... ihre Nato-Waffen sind besser als unsere“. Ein anderer äußerte: „Vanya, immer mehr Särge kommen an. Wir vergraben einen nach dem anderen. Das hier ist ein Albtraum.“
Die Sorge der Angehörigen war groß. Ein Soldat berichtete laut NYT: „Die Ehefrauen drehen inzwischen durch. Sie schreiben jetzt sogar an Putin.“
Butscha im Ukraine-Krieg: Soldaten-Telefonate belegen Gräueltaten
Im Kiewer Vorort Butscha wurden am 2. und 3. April nach dem Abzug der Russen Dutzende Leichen von Zivilisten entdeckt, einige mit gefesselten Händen und Folterspuren. Die Bilder davon gingen um die Welt. Moskau wies jede Verantwortung von sich. Doch die mitgeschnittenen Telefonate legen nahe, dass die Gräueltaten in Butscha kein Einzelfall waren.
Unser Hauptsitz ist hier in einem Wald. In den bin ich hineingegangen und fand etliche Leichen in Zivilkleidung. Ich habe in meinem verdammten Leben noch nie so viele Leichen auf einmal gesehen. Es ist komplett abgefuckt. Man erkennt nicht, wo die Leichen enden.
Russische Soldaten in der Ukraine rufen ihre Familien an: „War für einen Fernseher willst Du?“
Auch wenn die Moral der russischen Soldaten niedrig ist, schienen die Plünderungen laut den Telefon-Mitschnitten ein kleiner „Lichtblick“ für sie zu sein. Ihre Familien beklagten bei den Gesprächen die Folgen der EU-Sanktionen gegen Russland. Medienunternehmen „verschwanden“ in dem Land von der Bildfläche, westliche Unternehmen wie McDonald‘s, H&M oder Ikea schlossen ihre Filialen. Die Soldaten boten Mitbringsel aus dem Krieg an: „Was für einen Fernseher möchtest Du? Einen von LG oder von Samsung?“, fragte einer. (frs)