„Wäre Suizid“: Chodorkowski erklärt, warum Putin nicht zum Atomschlag greift – aber die Nato attackieren müsste

Michail Chodorkowski zählt zu den bekanntesten Putin-Kritikern. Im Interview mit IPPEN.MEDIA gibt er Einblick in das Denken des russischen Präsidenten.
München - Russland ist bei der Münchner Sicherheitskonferenz nicht eingeladen. Genauer gesagt: Die russische Regierung. Mit dem früheren Oligarchen Michail Chodorkowski stellte am Donnerstag (16. Februar) ein prominenter Kreml-Kritiker ein Buch mit sehr konkreten Vorschlägen für ein Russland „nach Putin“ vor. Sogar ein „Handbuch“ für eine „Revolution“ legte er mit „Wie man einen Drachen tötet“ vor.
Vorab sprach Chodorkowski mit Merkur.de von IPPEN.MEDIA. Vorsichtige Entwarnung gab er dabei mit Blick auf einen möglichen Atomschlag Wladimir Putins. Umso eindringlicher mahnte der frühere Chef des Ölkonzerns Yukos zur Vorsicht vor einem russischen Angriff auf die Nato - wenn das Land in der Ukraine „gewinnt“. Einschätzungen gab Chodorkowski auch zu möglichen Putin-Erben, den mysteriösen Todesfällen russischer Wirtschaftsbosse und zur Lage Alexej Nawalnys ab.
Putins Rücktritt? „Das wäre Suizid“
Merkur.de: Herr Chodorkowski, Sie kennen Wladimir Putin besser als die meisten Menschen, die im Westen über seine Pläne spekulieren. Halten Sie es für denkbar, dass er sich freiwillig aus der Ukraine zurückzieht?
Michail Chodorkowski: Er könnte das tun, wenn er feststellt, dass ein beträchtlicher Teil seiner Truppen umstellt ist. In dieser Situation wäre das denkbar. Aber wenn Ihre Frage ist, ob er überredet werden könnte, sich zurückzuziehen: Auf gar keinen Fall. Aus dem gleichen Grund übrigens, aus dem es unwahrscheinlich ist, dass er strategische Atomwaffen einsetzen wird: Er ist nicht suizidal. Und das wäre Suizid.
Gilt das auch innenpolitisch? Gibt es ein Szenario, in dem Putin als Präsident zurücktreten könnte?
Als Präsident zurückzutreten? Nein, das wäre in der aktuellen Situation ebenfalls Suizid.
Ich vermute, Sie haben trotz ihres Lebens im Exil einen gewissen Einblick in die russische Gesellschaft. Wie viel Hoffnung auf eine starke Opposition gibt es? Der frühere deutsche Botschafter in Russland, Rüdiger von Fritsch, sprach zuletzt von einer Haltung wie zu Zeiten des Stalinismus. Kaum jemand wolle auffallen und sich so Ärger einhandeln. Stimmen Sie zu?
Schauen Sie: Mit mir unterwegs ist Anastasia Schewtschenko, sie hat zweieinhalb Jahre unter Hausarrest verbracht und musste das Land verlassen, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Ebenfalls mit in München ist Anastasia Burakowa. Wenn sie nicht nach Georgien gegangen wäre, würde auch sie jetzt für sechs Jahre im Gefängnis sitzen.
Also, auf der einen Seite ist die Antwort auf Ihre Frage: Ja. Auf der anderen Seite stehen wir in stetigem Kontakt mit Menschen in Russland, die mutig genug sind, ihre Position zu verteidigen. Wir haben gerade erst diskutiert, wie groß der Anteil solcher mutigen Menschen an der russischen Bevölkerung ist. Wir denken, es geht um 15 bis 20 Prozent. Also eine Lage wie in stalinistischen Zeiten ist es nicht direkt.
Dann werden wir uns als Nächstes über einen Krieg Russlands gegen die Nato unterhalten müssen. Denn Putin kann nicht mehr aufhören - selbst, wenn er wollte.
Sie hoffen erklärtermaßen auf eine demokratische „Revolution“ in Russland. Das ist allerdings nicht das einzige Szenario für ein Russland nach Putin. Gibt es in Ihren Augen jemanden, der Putin gefährlich werden oder ihn beerben könnte, der vieldiskutierte Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin etwa?
Es gibt aktuell verschiedene politische Kräfte in Russland. Die „Nationalpatrioten” um Prigoschin sind eine davon. Das ist die Kraft, auf die sich Putin momentan stützt. Das ist allerdings keine monolithische Einheit. Es läuft ein Machtkampf - aktuell etwa mit Igor „Strelkow” Girkin. Er ist derjenige, der im Donbass den ganzen Schlamassel begonnen hat. Eine andere Kraft sind die Demokraten - ebenfalls nicht monolithisch. Wir versuchen gerade, einen Konsens in unseren Reihen herbeizuführen. Die Kommunisten wiederum sind in einer schwierigen Lage, weil ihr Anführer im Dienst des Kreml steht, ihre Bewegung ist stark geschwächt.
Und dann sind da noch die Regionen als weitere wichtige Kraft. Alle kennen den Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow, Rustam Minnichanow aus Tatarstan ist im Westen weniger bekannt. Zu nennen wären auch der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin, oder Jewgeni Roisman aus Jekaterinburg. Es gibt ein umkämpftes Machtzentrum in St. Petersburg und den inhaftierten, aber im äußersten Osten sehr beliebten Politiker Sergej Furgal - es gibt viele solcher Regionalmächte. Für den Moment sind sie dem Kreml untergeordnet. Aber wenn diese Phase vergeht, werden sie auf eigene Faust unterwegs sein.
„Putin kann nicht mehr aufhören“: Chodorkowski warnt vor russischem Angriff auf die Nato
Trotz ihres Exils scheinen Sie im Buch aus einer sehr spezifisch-russischen Perspektive zu schreiben. Aus diesem Blickwinkel: Wie kann der Westen im Ukraine-Krieg, aber auch auf Russlands Entwicklung positiven Einfluss nehmen?
Ich bin der festen Überzeugung, dass der Westen an zwei Punkten einen sehr wichtigen Einfluss haben kann. Der erste ist ein militärischer Sieg der Ukraine. Wenn das nicht passiert, werden wir uns als Nächstes über einen Krieg Russlands gegen die Nato unterhalten müssen. Denn Putin kann nicht mehr aufhören - selbst, wenn er wollte. Das hat er übrigens auch öffentlich gesagt. Von einer Nato in den Grenzen von 1997 war die Rede. Das sollte auch deutscher Sicht ein sehr bedenklicher Plan sein.
Und der zweite Punkt?
Wenn die Ukraine militärisch gewinnt und das russische Regime kollabiert, wird jede neue Regierung Russlands eine gemeinsame Sprache mit dem Westen finden müssen - zumindest mal in der Frage der Sanktionen. Hier wird der Westen eine Entscheidung treffen müssen: Entweder den kompletten Zerfall Russlands zu unterstützen. Oder den nächsten „guten Zar” zu suchen. Oder aber Russland zu helfen, den schmalen Grat zwischen Zerfall und Autoritarismus zu beschreiten. Mit Föderalismus, parlamentarischer Demokratie et cetera - die Zutaten habe ich in meinem Buch schreiben. Das wird nicht alles vom Westen abhängen. Aber der Westen wird die Chance haben, diesen Prozess entscheidend zu beeinflussen.
Ukraine-Krieg: Russland soll Kosten alleine tragen - „Das ist der Preis, den wir zahlen“
Ein heikler Punkt für eine neue russische Regierung könnte auch der Umgang mit dem Erbe des Ukraine-Kriegs sein. Der Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow hoffte in seinem Buch „Putinland“ auf die reinigende Wirkung einer Demütigung für Russland - vergleichbar mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ich habe meine Meinung hierzu im Buch sehr vorsichtig beschrieben. Ich denke, Russland wird diese Bürden alleine tragen müssen. Genauso wie die Bürde, die Ukraine für alle begangenen Verheerungen entschädigen zu müssen. Und das ist in meinen Augen nur fair. Das müssen wir akzeptieren. Das ist der Preis, den wir dafür bezahlen müssen, dass wir Putin zu unseren Lebzeiten an die Macht gelassen haben.
Eine andere Hürde zu einem russischen „Nationalstaat“ mit dem Sie Putins „Imperium“ ersetzen wollen: Ihrem Vorschlag zufolge müssten sich die Regionen nach dem Zerfall des Putin-Regimes frei für einen Beitritt zu einer russischen Föderation entscheiden. Ist das nach den Verletzungen etwa der Mobilisierung in Gegenden wie Dagestan überhaupt realistisch?
Das ist eine komplizierte Frage. Ja, die Leute müssten sich das überlegen und entscheiden. Ich kann nicht ausschließen, dass sich einige Regionen dafür entscheiden würden, Russland zu verlassen. Ich denke aber aus Gründen der Wohlfahrt und Sicherheit wäre das eine unvorteilhafte Entscheidung. Man müsste hier Überzeugungsarbeit leistet - das kann gelingen, oder auch nicht. Es ist klar, dass der überzentralisierte russische Staatsaufbau niemandem nützt. Aber in einem föderalisierten Russland gäbe es viele Argumente für das Bleiben. Schauen Sie nach Großbritannien: Die Leute waren enthusiastische Brexit-Anhänger - jetzt geben sie zum ersten Mal zu, dass sie 20 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts verloren haben, aufgrund des Austritts aus der EU.
„Oligarchen“-Tode in Russland: „Diese Leute könnten zu viel gewusst haben“
Ein anderer Vorschlag aus Ihrem Buch ist es, die „Ressourcenrente“ aus den russischen Rohstoffen an die Bevölkerung zu geben. Das könnte, offen gesagt, überraschen - wenn man bedenkt, dass Sie selbst einst großen Reichtum als Chef des Ölkonzern Yukos erworben haben.
Sie können mir natürlich kritische Fragen diesbezüglich stellen. Aber wichtig zu verstehen ist, dass der russische Staat auch mir damals die Ressourcenrente abgenommen hat. Jedes Unternehmen, das Rohstoffe abbaut, hat zwei Einkommenssäulen: Eine ist die Ressourcenrente, die andere normaler geschäftlicher Profit. Die Ressorcenrente wird den Unternehmen durch mehrere Spezialsteuern abgenommen.
Sie macht 50 Prozent des russischen Staatsbudgets aus. Dieses Geld fließt in den Krieg und in die verschiedenen Geheimdienste. Ein Teil fließt aber auch in Form von Pensionen und anderen Ausgaben an die Bevölkerung zurück - im Austausch für ihre politische Loyalität. Dieses Geld muss von den Behörden ferngehalten werden, damit sie sich nicht länger politische Loyalität erkaufen können! Der Staat sollte von den Steuern leben, die die Menschen zahlen. Denn dann verstehen die Menschen, dass sie den Staat ernähren, nicht umgekehrt.
Im Anschluss daran: In Deutschland sind die Todesfälle mehrerer Oligarchen, hochrangiger russischer Wirtschaftsleute, auf großes Interesse und Rätselraten gestoßen. Haben Sie eine These zu den Hintergründen?
Da geht es nicht um Oligarchen, da geht es um Leute, die auf großen Geldströmen sitzen. Ich denke, in einer Situation, wie wir sie jetzt erleben; wenn es die Notwendigkeit gibt, die Herkunft bestimmter Vermögen zu verschleiern, könnten diese Leute zu viel gewusst haben. Zum Beispiel haben wir gehört, dass 300 Milliarden Dollar an russischen Vermögen eingefroren wurden. Das ist es, was die Berichte russischer Banken zeigen. Aber ich habe auch unlängst gelesen, dass nur bei 100 Milliarden belegt ist, dass sie eingefroren wurden - also, wo sind diese 200 Milliarden? Ich denke nicht, dass man noch in Sicherheit lebt, wenn man die Antwort kennt.
Alexej Nawalny in Gefahr? „Wenn Putin unter Druck gerät, könnte das Risiko steigen“
Was ich mich beim Lesen Ihres Buches fragte: An wen wenden Sie sich mit ihren Vorschlägen eigentlich? An eine russische Opposition - oder eher an eine Leserschaft im Westen?
Zunächst mal: Ich bin kein Autor. Mich zum Schreiben zu bringen, ist eine größere Herausforderung. Aber ich hatte es satt, dass alle sagen, die russische Opposition habe „keine Vision für die Zukunft“, oder auch für die Übergangsphase. Ich dachte mir, ich schreibe es auf und dann haben alle die Antwort schwarz auf weiß. Jetzt kann ich sagen: „Lest das Buch!“ Oder auch: „Gib mir dein Buch!“ Danach können wir streiten. Tatsächlich hat es mich überrascht, dass Leute im Westen Interesse daran hatten, dieses Buch übersetzen zu lassen. Es ist für Russen geschrieben. In der sehr direkten Sprache, in der man in Russland oder auch den USA schreibt.
Eine letzte Frage: Eine wichtige Figur in der russischen Opposition ist Alexej Nawalny. Sie haben die Realität russischer Straflager am eigenen Leib erfahren. Denken Sie, Nawalny ist in akuter Gefahr?
All diese Prozeduren, die an ihm heute angewandt werden, wurden damals an mir und meinen Kollegen entwickelt. Ich denke nicht, dass Putin ihn tot sehen will. Er ist eine wertvolle Geisel für ihn. Andererseits: Wenn das Putin-Regime unter Druck gerät, dann könnte das Risiko für Alexej Nawalny steigen. Ich denke, dessen ist er sich selbst bewusst.
Interview: Florian Naumann
Chodorkowskis Buch „Wie man einen Drachen tötet - Handbuch für angehende Revolutionäre“ ist am 15. Februar im Europa-Verlag erschienen.