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Putin im Labyrinth der Geschichte: 100 Jahre Sowjetunion – und der geschichtsbesessene Kremlchef feiert nicht

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Von: Florian Naumann

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Wladimir Putin im Sommer 2022 an der Moskauer Kreml-Mauer – bei einer Ehrung für „Helden der Stadt“.
Wladimir Putin im Sommer 2022 an der Moskauer Kreml-Mauer – bei einer Ehrung für „Helden der Stadt“. © IMAGO/Kremlin Pool

Gerne erinnert Wladimir Putin an die einstige Machtfülle der Sowjetunion. An den Jahrestag ihrer Gründung aber lieber nicht. Dafür gibt es Gründe.

München – Ein geschichtlich bedeutungsschwerer Jahrestag: Die Gründung der Sowjetunion jährt sich am Freitag (30. Dezember) zum 100. Mal. Ob das ein Grund zum Feiern ist, liegt wohl sehr stark im Auge des Betrachters. In Russland überdeckt offenbar mittlerweile eine gewisse Verklärung, Schattenseiten wie Gulag und zeitweilige Hungersnöte – wie etwa eine aktuelle Umfrage nahelegt.

Und dennoch verzichtet ein Teilen des Sowjet-Erbes durchaus zugeneigter Mann auf Festivitäten: Wladimir Putin sprach zum Jahrestag zwar mit Chinas starkem Mann Xi Jinping. Auf Großevents oder gar einen nationalen Feiertag verzichtete der Kremlchef aber. Obwohl er den Zusammenbruch des Sowjetreichs gerne als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Womöglich, weil Russlands Machthaber in einem etwas bizarr anmutenden Spannungsfeld mit der sowjetischen Historie steht.

Putin als Hobby-Historiker: Futter für Russlands Nostalgiker, kalte Schulter von den Nachbarn

Noch am Mittwoch (28. Dezember) hatte Putin direkt mit dem Nachlass der Sowjetunion zu tun: In Sankt Petersburg traf er die Regierungskollegen aus der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“. Die „GUS“ besteht aus den Nachfolgestaaten der UdSSR – 1992 trat gar eine „Nationalmannschaft“ unter diesem Titel bei der Fußball-EM an. Mittlerweile haben sich die Bande teils stark gelockert. Im Falle der Ukraine ganz offensichtlich. Putin scheiterte nun mit einer symbolträchtigen Aktion: Er verteilte Berichten zufolge goldene Ringe an die Teilnehmer des Treffens – wohl als Zeichen der Verbundenheit der Ex-Sowjetstaaten. Doch nur der direkt von Russland abhängige Alexander Lukaschenko steckte das Schmuckstück auch an.

In mindestens zweierlei Hinsicht würde Putin gerne an Sowjet-Zeiten anknüpfen: Bei der Ausdehnung von Moskaus brüchigem Einflussbereich natürlich – Putin wolle die Grenzen der UdSSR wiederherstellen, war aus der Ukraine schon Ende 2021 zu hören. Und wenn es um nostalgische Gefühle der Russen geht. Auf das Schleifen von Sowjet-Denkmälern in Osteuropa reagiert Moskau immer wieder empört.

Das Phänomen der Sowjet-Nostalgie und die verbundene demonstrative Affinität Putins erklärt etwa der russische Oppositionelle Leonid Wolkow mit einem historischen Schmerz: Mit dem Ende der Sowjetunion sei für die Russen nicht nur eine politische, sondern auch eine wirtschaftliche Lebenswelt zusammengebrochen. Mit einem lauten Knall, „als Phase eines existenzbedrohenden wirtschaftlichen Chaos wie der politischen Unsicherheit.“ Putin verweise nun gerne auf die geradezu sowjetische Ordnung, die sein Regime bringe, erklärt Wolkow in seinem Buch „Putinland“.

Plausibel erscheinen lässt das eine (nicht repräsentative) Leser-Umfrage der russischen Zeitung Komsomolskaja zum Jahrestag: „Was bedeutet Ihnen die Sowjetunion“, lautete die Frage. Nur zwei Prozent der Teilnehmer entschieden sich für die Option „Gulag, Zensur, Armut und der Eiserne Vorhang“, wie die BBC mit Erstaunen protokollierte. 60 Prozent wählten „Große Bauprojekte, Sieg und Juri Gagarin“. Mit dem „Sieg“ war der Zweite Weltkrieg und der Kampf gegen Nazi-Deutschland gemeint – ein historischer Meilenstein, den der Kreml im Ukraine-Krieg offenbar immer wieder mit Nazi-Vorwürfen gegen Kiew zu seinen Gunsten heranziehen will.

Putins selektive Geschichtsschreibung: „Herz“ für Sowjetunion, Vorbilder unter Russlands Zaren

Andere Teile der Sowjet-Geschichte lässt Putin gerne unbeachtet: Die Kirche etwa, im Sowjetsozialismus bewusst marginalisiert und teils drangsaliert, nutzt er als einen seiner innenpolitischen Hauptverbündeten – biblische Zitate oder die Rede von „Hölle“ und „Satan“ wären den Sowjets undenkbar gewesen. Vom „Dschihad“ des tschetschenischen Getreuen Ramsan Kadyrow ganz zu schweigen.

Ein Drahtseilakt. Putin manövrierte über die Jahre in ein eher selektives Geschichtsverständnis: Wer den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht bedauere, habe „kein Herz“, sagte er etwa. Wer sie wiederherstellen wolle „kein Hirn“. Diesen Satz echote am Freitag dann auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

„Die Sowjetunion ist ein integraler Bestandteil unserer Geschichte.“

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am 100. Jahrestag der Gründung der Sowjetunion – ins Detail gehen wollte er lieber nicht.

Auch einen weiteren Putin-Standpunkt wiederholte er. „Russland hat seinen Anfang nicht 1917 oder 1991 genommen“, hatte Putin 2012 erklärt. „Wir haben eine einzige, ununterbrochene Historie, die sich über 1.000 Jahre erstreckt.“ Beobachter attestierten dem Kreml-Chef im Kriegsjahr 2022 etwa, dem Zaren Alexander III. nachzueifern – der hatte Ende des 19. Jahrhunderts eine „Epoche russischer Wiedergeburt“ und Gottesgefälligkeit einleiten wollen. Und die Ukraine „russifiziert“, wie die Welt notierte.

Ein anderer Bezugspunkt Putins weit jenseits der Sowjetunion ist Peter I. Der Zar habe Krieg geführt, um Regionen „zurückzuholen und zu stärken“, sagte Putin vor einiger Zeit. Unerwähnt blieb dabei: Die Kosten der Kämpfe stürzten Teile des Landes in die Armut. Und auch am Bild der Sowjetunion will sich der Kremlchef offenbar nur an ausgewählten Stellen bedienen. Je mehr Dozenten es gebe, desto mehr Bilder der Sowjetunion gebe es, sagte Peskow. Er wolle sich nicht an Debatten beteiligen. Sicher sei nur: „Die Sowjetunion ist ein integraler Bestandteil unserer Geschichte.“

Putin und die Sowjetunion – Großmacht, aber bitte ohne Revolution

Einen Aspekt der Sowjet-Historie ignoriert Putin geflissentlich: Der Riesen-Staat hatte seine Keimzelle schließlich in einer Revolution. Die russische Revolution hatte sich 2017 zum hundertsten Mal gejährt. Auch damals verzichtete der Kreml auf Feierlichkeiten. Stattdessen stellte sich Putin mit einer klaren Botschaft vor die Duma, wie der New Yorker berichtete: „Wir brauchen die Lehren der Geschichte vor allem, um die soziale, politische und zivilgesellschaftliche Einigkeit zu stärken, die wir erreicht haben“: Sowjet-Größe ja, Revolution nein, sollte das heißen.

Putin hatte auch 2013 schon seine eigene Antwort auf das „Problem“ der ambivalenten Sowjet-Historie formuliert. „Zu oft in der Geschichte unserer Nation haben wir Opposition gegen Russland erlebt, statt Opposition gegen die Regierung“, erklärte er damals. „Und wir wissen, wie das endet. Mit der Zerstörung des gesamten Staates.“ Wer als oberster Bewahrer der russischen Nation verstanden werden sollte, lag auf der Hand. Zuhörer durften sich an den Schmerz über den Verlust der Sowjet-Zeit erinnert fühlen. Und an das zweifelhafte Versprechen von „Ordnung“.

Nicht völlig undenkbar indes, dass Putin ein Problem sowjetischen Zuschnitts blüht. Der tadschikische Präsident Emomali Rachmon warf Putin im Oktober auf offener Bühne vor, dass Moskau kleinere Länder wie schon zu sowjetischen Zeiten übergehe. Den „GUS“ scheint der Sinn nicht nach neuer Verbundheit zu stehen. Bei einem anderen Gipfel in Usbekistan ließen Staatenlenker Putin bei bilateralen Treffen warten. „Sogar der Zusammenbruch der Sowjetunion könnte letztlich weniger wichtig aussehen als Putins Schnitzer“, hatte der schwedische Diplomat Carl Bildt Putin vor fast genau einem Jahr mit Blick auf einen Ukraine-Einmarsch gewarnt. (fn)

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